Dreißig Minuten im Tunnel

Wort zum Tage
Dreißig Minuten im Tunnel
12.04.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner
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Zeitzeichen: Knappe, klingende Signaltöne. Im Radio kündigen sie kurz vor Beginn der vollen Stunde die Nachrichten an. Die Zeitzeichen dauern nur zwei, drei Sekunden. Sie sind nur ein Mini-Moment vorübergehender Zeit-Markierung.

 

Ein Zeitzeichen besonderer Art entstand vor ein paar Wochen in unserer Berliner Kirchengemeinde. Um die Restaurierung ihrer alten Turmuhr zu finanzieren, bietet die Versöhnungsgemeinde gegen eine Spende symbolische Minuten an. Es sind jene 720 Minuten von null bis zwölf Uhr.

 

Das Echo nach dem Aufruf „Gönn‘ dir eine Minute“ ließ nicht lange auf sich warten. Wir bekamen E-Mails, und sogar richtige Briefe. Ein paar Tage lang stand das Telefon im Gemeindebüro kaum still. Dabei ging es weniger um die Modalitäten des Projektes zur Rettung der Turmuhr. Nein, die Idee mit den Minuten hatte es den Leuten angetan. Viele haben sich unsere Frage zu Herzen genommen, ob sie eine wichtige Minute in ihrem Leben besonders würdigen möchten. Vor allem, weil diese kleine Minuten-Aktion eine Gelegenheit für sie war, auf ihre wichtigen Zeitzeichen zu achten. Wir erfuhren, dass Menschen sich hinsetzten und ihre Lebenszeit überdachten. Wie es der Geschichtsschreiber im fünften Buch Mose den Lesenden rät: „Gedenke der vorigen Zeiten. Geht den Jahren nach, von Generation zu Generation“.

 

Eine der ersten E-Mails kam aus Hamburg. Sie berichtete von der Dankbarkeit eines Paares für ihre Ehe. „Es ist die Minute, in der wir uns die Treue versprochen haben“, schrieben sie uns. Ein frisch gebackener Großvater sandte uns eine Sms mit der Frage, ob die Minute „7.25 Uhr“ noch frei ist. Da ist sein erster Enkel auf die Welt gekommen. Ein Mann schrieb uns, dass er die Abschiedsminute ehren möchte von seinem gerade im Winter verstorbenen Freund.

 

„Ich widme jene Minute“, schrieb uns eine Frau, „in der ich nach dem Mauerbau 1961 als letzte aus unserem Haus trat“. Wir lasen, dass ihr Wohnhaus im Berliner Grenzgebiet der Bernauer Straße lag. Damals wurden 2.000 Bewohner auf der Ostseite der Bernauer Straße von der DDR-Regierung zwangsgeräumt. Die Häuser wurden gesprengt. Gleich eine halbe Stunde auf einmal widmete uns ein 80jähriger Ingenieur, der 1962 als Student daran beteiligt war, unter der Bernauer Straße hindurch einen Fluchttunnel zu graben. 29 Menschen aus Ost-Berlin krochen damals durch diesen Tunnel nach Westberlin. In die erste junge Frau, die auf der freien Westberliner Seite heraus kam, hat er sich verliebt. „Ich widme dem Turmuhrprojekt jene 30 bangen Minuten“, sagte er, „die meine heutige Frau durch den Tunnel gekrochen ist“. 30 Zeitzeichen, die in Erinnerung bleiben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner