Erinnern heißt innig(er) werden

Wort zum Tage
Erinnern heißt innig(er) werden
05.11.2019 - 06:20
29.08.2019
Christina-Maria Bammel
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Heute vor 70 Jahren beschloss der Ministerrat der damals frisch gegründeten DDR eine eigene Nationalhymne. Von Hanns Eisler stammte die Melodie, von Johannes R. Becher der Text. „Auferstanden aus Ruinen, und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint.“ So lauteten die ersten Zeilen. Klar, dass irgendwann diese Textfassung den Mächtigen der DDR-Diktatur unsingbar schien. Mit dem Beginn der siebziger Jahre war nur noch die Instrumentalfassung zu hören. Klar, dass man sich in der Welt und in der DDR hinter vorgehaltener Hand auch darüber lustig machte: Ein Volk hatte eine Hymne, die aber nicht gesungen werden durfte. Absurd! Im Deutschen Historischen Museum kann man auf einem Manuskript sehen, dass jemand mal das Deutschland einig Vaterland in Deutschland heilig Vaterland verändert hatte. Das setzte sich natürlich erst recht nicht durch. Vom Heiligen hatte die Diktatur der Arbeiterschaft die Nase voll. Von der Vergangenheit auch. Bechers Text setzt erst bei den „Ruinen“ der Nachkriegszeit ein. Was davor gewesen war, sollte nicht mehr interessieren. Zukunft war alles, Vergangenheit nichts. Wenn Geschichte, dann gab es sie nur als ein einziges Narrativ: Der Faschismus ist ausgerottet. Es sollte möglichst Eindeutigkeit herrschen, schwarz und weiß. Aber die Menschen hatten Geschichten, Familiengeschichten, die nicht in schwarz und weiß aufgingen, die eigentlich darauf warteten, in ihrer ganzen Gebrochenheit, Widersprüchlichkeit auch erzählt und auf den Tisch gelegt zu werden. „Wie geht das Neue, wenn die, die es machen sollen, ihre Schuld nicht bewältigen können? Wenn der Zustand des Ostens unerträglich wurde, wurde er [durch die Herrschenden] entschlossen betäubt.“ Das schreibt Ines Geipel in ihrem Buch Umkämpfte Zone. – Erinnern aber gehört zur Heilung, so wie auch Schmerzen zu Heilungsprozessen gehören. Erinnern bedeutet, ins Innere zu gehen, innezuhalten und nach innen zu hören. Vielleicht braucht es dafür eine neue Innigkeit. Vielleicht ist das ein Weg für uns, mit heillosen Tabus aufzuräumen, mit dem so lang Verschwiegenen und dem verschämt Verdrängten endlich Umgang zu finden – um der Zukunft willen. Das ist mein Gebet.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

29.08.2019
Christina-Maria Bammel