Gelobtes Land

Wort zum Tage
Gelobtes Land
12.02.2019 - 06:20
03.01.2019
Evamaria Bohle
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Ein von vielen gelobtes Land ist meine Heimat: Europa, Deutschland. Ich habe eine Staatsangehörigkeit, einen Pass, eine Muttersprache, eine Steuernummer, eine Adresse unter Berliner Himmel. Ich bin 16 Mal umgezogen – freiwillig – und habe in zehn deutschen und einer englischen Stadt gewohnt. Vielleicht ist mir nicht gegönnt, „eine bleibende Statt zu haben“. Aber ich lebe bereits im „gelobten Land“. Und das, ohne über das Mittelmeer zu müssen.

Das Wort Heimat bleibt mir trotzdem fremd. So wie Vaterland oder Volk. Zu viel „ihr und wir“, zu viel Ausgrenzerei und Gewalt. Heimat liegt mir auf der Zunge wie ein Bonbon, das sich nicht rundlutschen lässt. Zu süß und scharfkantig. Der Gaumen wird wund. Das hat Gründe:

In den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts spuckte mir auf dem Markt in einer norwegischen Kleinstadt eine alte Frau vor die Füße. Ich war 14 Jahre alt und hatte deutsch gesprochen, wie die Besatzer vor vierzig Jahren. Ich hatte in ihrer Heimat Blut vergossen. Natürlich nicht ich, aber ich erschrak und verstand ihren Hass. Nur neun Jahre später bekam die Deutschlandkarte im Wetterbericht eine neue Silhouette. Mein Land blähte sich auf und wurde mir fremd. Was wohl die Norwegerin empfand?

Wie viele Menschen haben seit 1990 bei uns ihre Heimat verloren? „Wir sind ein Volk“ verschlang ihnen Land, Gewohnheiten und Gesetze, Recht und Unrecht, Lebenserfahrung und Alltagswissen, Arbeit, Werte und Witze – alles weg. Stattdessen Freiheit, Westmark, Wettbewerb und neue Regeln, neue Nachbarn, neue Besitzer und frisch renovierte Fassaden. Und noch heute schlendern manche wie Fremde durch ihre alten Straßen. „Zu Ostzeiten“, sagen sie, wenn sie sich erinnern. Migrationshintergrund, ganz ohne Migration. Vierzig Jahre irrte ein Volk durch die Wüste, erzählen die alten Geschichten. Und später gab es Krieg um Krieg um das gelobte Land. Wie viele Tote sind zu beklagen? „Tröstet mein Volk“, schreibt der Prophet.

Mein gelobtes Land. Wenn ich mit dem ICE heutzutage durchs Ostwestfälische brause, wenn es flach und grün wird, geht mir das Herz auf: alte Heimat. Mein Kinderland ist nicht abgebrannt. Ich schaue aus dem Fenster: milchweißverhangener Himmel, Wolkenfetzen in Blassblau. Flaches Land: Wiesen, einzelne Gehöfte, schmale Straßen, Wäldchen. Und über allem der taumelnde Flug der Kiebitze. Ich schließe die Augen und habe den Geruch in der Nase. Ich öffne die Augen: Das Land rast vorbei. Keine bleibende Statt, nur etwas wie Heimweh.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2019
Evamaria Bohle