Geschichten heilen

Wort zum Tage
Geschichten heilen
29.01.2021 - 06:20
21.01.2021
Ulrike Greim
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Warum willst du studieren, haben die Eltern vorwurfsvoll gefragt. Bei uns hat keiner studiert, es ist aus allen etwas Vernünftiges geworden.

Sie wollte studieren, denn sie liebte Bücher. Und dieses eine hatte es ihr schon immer angetan. Die Oma hatte es ihr gegeben. Sie war in den Frauenkreis mitgegangen, wo daraus gelesen wurde und darüber diskutiert. Dieses Buch schien ein unendliches Reservoir an Geschichten und Rätseln zu sein, an Poesie und an Lebensweisheiten, an archaischen Texten über die Welt und was sie zusammenhält. Sie wollte es genauer wissen. Und studierte Theologie.

 

Die Eltern, Bauern, hatten gesagt: Wenn, machst du das allein. Von uns kommt keine Unterstützung. Besser wäre es, du würdest den Hof übernehmen.

Was das mit diesem besonderen Buch, der Bibel ist, wollte sie wissen. Einfach, weil sie neugierig war. Können Geschichten helfen zu heilen?

 

Was willst Du damit, hatten die Verwandten gefragt. Brotlose Kunst. Aber als die Tante sich das Leben nahm, da wurde sie gerufen. Sie ging mit zitternden Knien. Zur trauernden Familie, später ins Vikariat, zu den Kindern, zu den Konfirmanden, in den ersten Gottesdienst. Und sie liebte es, die Geschichten zu erzählen, die Poesie klingen zu lassen im Kirchenraum. Es war so ungewöhnlich, irgendwie heilsam. Alles andere erarbeitete sie sich mit Fleiß und zusammengebissenen Zähnen.

 

Jetzt ist sie Pfarrerin.

Die Leute im Dorf sind gerade knurrig, wegen des Lockdowns. Das sei doch wie in einer Diktatur. Man werde eingesperrt.

Und was macht sie? Wieder nimmt sie allen Mut zusammen und erzählt Geschichten gegen die Angst.

Wie zwei im Gefängnis befreit werden – wie von Engelshand.

Wie einer vom Wal verschluckt wird, von Gott und der Welt getrennt scheint und dort das Beten lernt.

Wie einer in die Wüste geht, sich 40 Tage zurückzieht, um zu wissen, was wichtig ist.

 

Sie erzählt, sie schreibt, sie verschickt es per WhatsApp, sie spricht es auf Videos, postet es auf facebook. Und die Leute hören ihr zu. Schicken es weiter.

Menschen brauchen Geschichten, sagt sie. Geschichten vom Heilwerden. Vom Frei-Werden. Wir müssen Geschichten erzählen.

 

 

Doch die Situation macht sie mürbe. Die heftigen Diskussionen. Sie weiß doch auch nicht. Sie arbeitet und ackert auf dem steinigen Boden der Dorfgemeinden.

Sie macht es so lange, bis ihr die Puste ausgeht. Da kommt die alte Angst. Hast dich doch zu weit rausgewagt. Sie liegt im Bett und nichts geht mehr. Die Gedanken kreisen wie auf der Achterbahn.

 

Die Ärztin erzählt ihr eine Geschichte.

Einmal war einer zu Tode erschöpft. Erfolglos und ausgebrannt. Er hatte sich weit überschätzt und legte sich hin zum Sterben. Da kam ein Engel und legt ihm Brot hin. Und einen Krug Wasser. Und siehe, er konnte gehen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.01.2021
Ulrike Greim