Käthe und die Pralinen der Liebe

Wort zum Tage
Käthe und die Pralinen der Liebe
12.01.2021 - 06:20
12.01.2021
Michael Becker
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Neuerdings vergisst sie viel. Das besorgt Käthe. Früher war das nicht so. Sie war ein Muster an Gedächtnis. Als Lehrerin, als Tante, bei Nachbarn. „Käthe weiß Bescheid.“ „Käthe erinnert sich.“ Damit ist es vorbei. Das Vergessen wird größer. Die Zahl der Zettel auch. Hier ein roter, dort ein gelber. Gut ist, dass die Zettel von selbst kleben am Herd, an der Fernbedienung und so. Die Wohnung wird bunter. Am Schrank hängen Zettel, da steht „Geschirr“ drauf; oder „Gläser“. Dann muss Käthe nicht lange suchen und nicht jede Tür aufmachen. Sogar in der Handtasche ist ein Zettel, einer aus Pappe. Festgeknotet am Schlüsselbund. Weil Käthe das auf keinen Fall vergessen will. Da hat sie draufgeschrieben, was ihr das Wichtigste im Leben war und bleiben soll. Da steht: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Kann man ja auch mal vergessen, hat sie damals gedacht. Dann hat sie gleich den schönen Füller hervorgeholt, ein Loch ins dicke Papier gemacht und geschrieben: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

          Das Wichtigste im Leben. Was man nie vergessen darf. Das sagt Käthe, wenn sie jemand fragt. Neulich war das. Da sucht sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Findet und findet ihn nicht. Wahrscheinlich vor Aufregung. Der Nachbar kommt ihr zu Hilfe. Und findet sofort. Dann sieht er den Zettel am Schlüssel und fragt danach. Ja, sagt Käthe, das ist mir wichtig. Das will ich nicht vergessen. Und dankt dem Nachbarn - ist doch ein feiner Kerl.

          Sie muss erstmal durchatmen, als sie dann in der Wohnung ist. Immer die Aufregung, wenn sie etwas nicht findet. Furchtbar ist das. Aber es gibt ja den Nachbarn. Und die Menschen der Pflege. Die kommen manchmal vorbei und sehen nach dem Rechten. Käthe ist glücklich, wenn sie kommen. Sie hat immer etwas da. Ein kleines Geschenk. Und wenn es nur eine Praline ist. Sie weiß, was die anderen gerne essen. Meistens mit Nougat. Das kauft sie immer ein. Mit Zettel, versteht sich. Sie gibt und liebt so gerne. Sich selbst auch, meistens jedenfalls. Vor allem aber die, die ihr helfen. Die sollen nicht ohne Liebe sein. Das Wichtigste im Leben, sagt Käthe. Hauptsache, ich vergesse die Liebe nicht.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

12.01.2021
Michael Becker