Keine Worte zu beten

Wort zum Tage
Keine Worte zu beten
26.01.2021 - 06:20
21.01.2021
Ulrike Greim
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Herr, neige deine Ohren und erhöre mich;

denn ich bin elend und arm.

 

So beginnt der Psalm für diese Woche. Psalm 86.

In den Gottesdiensten wird er gelesen.

 

Bewahre meine Seele, denn ich bin dir treu.

Hilf du, mein Gott, deinem Knechte,

denn er verlässt sich auf dich.

 

Archaische Zeilen. Geschrieben in Angst.

Ich sitze zuhause auf dem Sofa und schaue einen Online-Gottesdienst. Die Orgel spielt sanft, die Stimme aus dem Lautsprecher ist angenehm.

 

Ich danke dir, Herr, mein Gott, von ganzem Herzen

und ehre deinen Namen ewiglich.

Denn deine Güte ist groß über mir,

du hast mein Leben errettet aus der Tiefe des Todes.

 

Wer betet das, denke ich. Wer hat das erlebt und erlitten?

In unseren Gottesdiensten sind die Zeilen, die jetzt kommen, nicht so opportun. Sie werden gerne weggelassen, weil sie verstören. Oder man zumindest nicht weiß, wie man sie zuordnen soll:

 

Gott, es erheben sich die Stolzen gegen mich,

und eine Rotte von Gewalttätern trachtet mir nach dem Leben

und haben dich nicht vor Augen.

 

Mit dem Hintern im Trockenen betet es sich angenehm, denke ich.

Mit den Füßen in Badelatschen im feuchtnassen Morast eines Flüchtlingslagers nicht.

 

Da ist das Paar, eine Helferin hat sie fotografiert und befragt. Ich lese es im Internet. Sie berichten von vergewaltigten Kindern. Einem Mädchen, das blutend neben einer Toilette gefunden wurde. Das Paar sagt, sie legen in ihrem Zelt ihre Kinder immer in die Mitte, damit, wenn nachts das Zelt aufgeschlitzt wird, die Erwachsenen zuerst rausgezogen werden.

 

Herr, sei mir gnädig;

denn ich rufe täglich zu dir.

Vernimm, Herr, mein Gebet

und merke auf die Stimme meines Flehens!

 

Die Männer bitten die Helferin, wenigstens die Kinder aus dem Lager zu holen. Wenigstens die Kinder. Und die Helferin kann nichts machen. Nichts.

 

In der Not rufe ich dich an;

du wollest mich erhören!

Herr, es ist dir keiner gleich unter den Göttern,

und niemand kann tun, was du tust.

 

Ich sitze im wohltemperierten Wohnzimmer und bete die alten Worte mit.

In Griechenland, in Libyen werden Menschen irre. Sie verrohen, weil sie keinerlei Aussicht haben. Vielleicht betet einer von ihnen den Psalm weiter:

 

Tu ein Zeichen an mir,

dass mir’s wohlgehe,

dass es sehen, die mich hassen, und sich schämen,

weil du mir beistehst, Herr, und mich tröstest.

 

Was kann ich schon beten? Vielleicht dies:

 

Weise mir, Herr, deinen Weg,

dass ich wandle in deiner Wahrheit.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

21.01.2021
Ulrike Greim