Mensch, lerne tanzen

Wort zum Tage
Mensch, lerne tanzen
20.11.2019 - 06:20
05.09.2019
Michael Kösling
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Der Tanzboden ist längst abgebaut, die bunten Girlanden mit Glühbirnen abgehängt und die Palmen zum Überwintern abtransportiert. Als die Tage noch lang waren und die Nächte warm, wiegten sich hier, gegenüber dem Bodemuseum am Ufer der Spree Menschen in Rhythmus und Takt des Tango. Zögerlich behutsam die einen, stolz und routiniert die anderen. Und manchmal, ganz selten, konnte man als ungelenker Zuschauer einen flüchtigen Kuss aus den Augenwinkeln erhaschen, nach einem langen ausdauernden Tanz. Wer vergäße je den letzten Blick vor dem ersten Kuss? Diesen Moment auf der Grenze zwischen Zögern und Wagen? Diesen Augenblick der Schwebe? Diesen Stillstand der Zeit? Wer vergäße es je! Damit hat es ja schon immer begonnen. Und siehe, es war gut. Es war sogar sehr gut dann: die Geschichte Gottes mit uns, seinen Menschenkindern. Geschaffen nach seinem Bilde. Wenig niedriger als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, kann man in der Bibel lesen. Begabt, auch selbst aus Chaos und Unordnung Sinn und Leben zu schaffen. In der Lage, zu singen, zu malen, zu tanzen und zu lieben. Das wird Wilhelm dem Zweiten wohl bewusst und ein Dorn im kaiserlichen Auge gewesen sein. Was sonst wohl hat ihn dazu gebracht, heute auf den Tag genau vor 106 Jahren das Tanzen des Tangos in Uniform als unschicklich zu verbieten. Seine Soldaten standen nicht für den lustvollen Tanz, sondern fürs mechanische Marschieren. Und wirklich: Ein Jahr später schon lagen sie mit ihren ehemals schmucken Uniformen blutverschmiert und erdverkrustet in den Schützengräben. Da war schon Krieg. Die Menschheit musste erkennen, wozu der Mensch sonst noch in der Lage war. Wie weit er sich von seiner Bestimmung entfernen konnte, dass fast nichts Menschliches an ihm noch zu erkennen war. Heute ist Buß- und Bettag. Ein Tag der Erinnerung daran, dass wir Menschen uns unserer Bestimmung füreinander oft entzogen haben. Dass wir aus Ordnung Chaos, aus Leben Tod und aus Liebe Hass gemacht haben. Oft genug. Dieser Tag ist ein Tag, sich an den guten Anfang zu erinnern, den ersten Blick: Siehe, es war sehr gut; und daran, was Menschenhände, Menschenworte und Menschengedanken alles Gutes hervorbringen können. Vielleicht erinnern sich manche auch daran, endlich einen Tanzkurs zu buchen, damit sie, wenn die Tage wieder länger werden und die Nächte wärmer, Tango tanzen können.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

05.09.2019
Michael Kösling