Nachdenklich im Straßencafé

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Kris Atomic

Nachdenklich im Straßencafé
mit Michael Becker
15.01.2022 - 06:20
11.01.2022
Michael Becker
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Im Herbst saß ich mal in einem Straßencafé. Es war gut warm. Viele Tische waren frei, als ich frühstückte. Es ging mir gut. Während ich Wetter und Essen genossen habe, ging ein älterer Mann durch die Reihen der Tische. Als er mir den Rücken zukehrte, konnte ich etwas genauer hinsehen. Seine Kleidung war nicht die frischeste, die Frisur auch nicht. Plötzlich fiel mir ein, was er hier machen könnte. Er besucht einen Ort, den er von früher kennt, dachte ich. Aber früher war eben früher. Heute konnte er es sich wohl nicht mehr leisten, hier zu sitzen und etwas zu bestellen. Er war jetzt schon weiter weg, hatte den Platz wieder verlassen und ließ mich mit meinen Gedanken allein.

Du kannst hier sitzen, dachte ich. Und er nicht. Vielleicht konnte er das ja mal, wer weiß. Heute wohl nicht mehr. Aber warum ich? Und dann kam mir das Wort in den Kopf, das immer wieder mal da herumspaziert, das Wort Gnade. Was hat es auf sich mit der Gnade? Ich kann hier in Ruhe frühstücken, anderen fehlt dafür das Geld. Viele sind heute Morgen krank oder traurig, ich nicht. Geht das denn mit rechten Dingen zu - mit rechten Dingen in Sachen Gnade?

Wenn ich das wüsste. Tatsache ist, dass die Gnade ungerecht verteilt ist, jedenfalls für mein Empfinden. Vieles kann ich nicht lösen. Ich kann abgeben, natürlich. Tu‘ ich auch gerne mal. Aber damit ist nie allen Armen geholfen. Vielleicht ein wenig meinem Gewissen. Die Welt ändere ich kaum damit, leider. Das waren so meine Gedanken, während sich das Café mit immer mehr Menschen füllte. Auch die können es sich leisten, dachte ich. Die haben

ähnliche Gnade wie ich. Und andere nicht. Ich kam irgendwie nicht recht

weiter mit meinen Gedanken. Nur mit einem noch. Dann sei doch wenigstens dankbar, sagte ich mir, dankbar für das, was Du hast. Sei dankbar für die Gnade, die Du erfährst. Der Gedanke hat mich etwas beruhigt. Ich kann vieles nicht ändern. Ich kann aber dankbar sein für das, was Gott mir gibt. Verdient habe ich das ja nicht, womit auch? Und das Unverdiente erwartet vielleicht erst mal einfach nur meinen Dank.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

11.01.2022
Michael Becker