Pontifexe

Wort zum Tage
Pontifexe
12.09.2019 - 06:20
13.06.2019
Ulrike Greim
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Ja, klar, baut sie nur wieder auf. „Wann und wo?“ schreibt Sören O. auf der Facebook-Seite eines mitteldeutschen Medienunternehmens unter eine Meldung zum Jahrestag des Mauerbaus, „Wann und wo? Ich bringe Steine, Mörtel und eine Kelle mit.“

Ja klar, baut sie wieder auf.

Holger D. stimmt zu: „Würde sogar die Mauer mit bauen, aber 5m höher.“

Chris-Uwe J. liefert eine Begründung: „Seit 30 Jahren vereint, aber in der Sache getrennt.“

Reihenweise solche Kommentare. Und Galle. Gegen die Wessis, die uns auch die Flüchtlinge gebracht haben, gegen Merkel, alle Politiker, gegen den Rest der Welt, der nur unser Verderben will.

Was für eine destruktive Energie! In den sozialen Netzwerken – und zunehmend auch in der Kohlenstoffwelt – gibt es zu viel davon, und es wirkt, wie ein schwarzes Loch. Es zieht Energie – ins absolute Nichts. Wie ein Strudel.

Stopp!

Die Hatz ist eröffnet – ich mache aber nicht mit. Galle – ich brauche sie für meine eigene Verdauung. Mauern bauen, abschotten – not my way. Das ist auch nicht das Klima, in dem wir über unsere Geschichte reden, liebe Leute.

Wie gut gelingt es mir, bei mir zu bleiben, wenn sich andere gegenseitig hochpeitschen?

Es ist eine Disziplinübung.

Die werden wir in den nächsten Wochen brauchen, wenn wir an 30 Jahre friedliche Revolution erinnern. Da wird viel Emotion hochkommen. Und viel Wut. Weil es – zumindest im Osten – keinen gibt, bei dem diese Zeit nicht heftig etwas ausgelöst hat. Und da hat jeder seine eigene Geschichte zu erzählen. Die einen, wie sie durchstarten konnten, andere, wie sie von jetzt auf gleich vor dem Nichts standen, vor dem Chaos. Ich erinnere mich an einen Ingenieur bei Zeiss, der zwölf Visitenkarten aus dem Schrank holte. Neue Firma, Ausgründung, Joint Venture, Insolvenz, dann bei der Konkurrenz. Jedes Mal, wenn sich der Ameisenhaufen wieder sortiert hatte, kam jemand und hat mit dem Stöckchen drin herumgerührt, sagte er. Wieder musste man sich neu erfinden. Er nahm es mit Humor und sagte: Das trainiert. Andere fielen in tiefe Frustration und hatten nicht die Ausbildung oder die innere Stärke, neu anzufangen. Oder nicht die nötigen Kontakte. Oder überhaupt: eine Chance.

Solche Geschichten gehören erzählt.

Das gelingt, wenn wir bei dem bleiben, was in uns angelegt ist: das Brückenbauen. Wir sind Pontifexe, Brückenbauerinnen. Wir können Gräben wahrnehmen, und suchen, was man braucht, um sie zu überwinden.

Es geht darum, auch die schweren Geschichten zu würdigen. Und damit die Chemie der Diskussion zu ändern. Im günstigen Fall: zu drehen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Ulrike Greim