Rückwärts verstehen

Wort zum Tage
Rückwärts verstehen
22.10.2018 - 06:20
07.09.2018
Eberhard Hadem
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Wenn ich gefragt würde, ob es für mich einen großen Plan meines Lebens gibt, so etwas wie den Sinn des Ganzen, könnte ich keine umfassende Antwort geben. Nicht einmal einen durchgehenden roten Faden kann ich erkennen. Vieles ist anders gekommen, als ich es erwartet habe. Rückblickend blättere ich in meiner Lebensgeschichte eher wie in einem Fotoalbum, erinnere mich an einzelne Bilder und Geschichten. Sicher, es gibt besondere Momente, wo ich zurückblicke: Geburtstage, Jubiläen, Jahreswechsel. Sören Kierkegaard, der große dänische Philosoph, hat jedoch zu bedenken gegeben: Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss. Das klingt banal, stellt aber die Dinge vom Kopf auf die Füße: Vor dem Nachsinnen kommt das konkrete Leben. Im besten Fall lassen sich rückblickend einige Zusammenhänge herstellen, manchmal nur erahnen. Wenn man einen Teppich von Hand webt, dann sind – je nach Farben und Formen – viele verschiedene Fäden nötig, um dem Teppich seine Gestalt zu geben. Wer einen fertig gewebten Teppich von unten betrachtet, sieht, wie die verschiedenen Farbfäden miteinander verknüpft sind. An einer Stelle hören Fäden auf, um an anderer Stelle wieder aufzutreten. Vieles wirkt verwirrend, chaotisch. Nur hier und da lassen sich Muster erkennen. Der Teppich von unten gleicht meinem vorwärts gelebten Leben. Um es rückwärts zu verstehen, müsste ich diesen Teppich umdrehen und von oben betrachten können. Dann würde sich – so hoffe ich – manches an den richtigen Platz im Ganzen fügen. Dann könnte aus Chaos ein schönes Muster werden, aus Fremdheit Verstehen, und ich könnte begreifen, wie alles zusammenhängt. Solange ich lebe, werde ich aber – im Bild gesprochen – den Teppich immer nur von unten sehen. Manchmal, ab und zu, gibt es fast himmlische Momente. Da ist es so, als ob ich einen kleinen Blick von oben tun könnte. Wenn einer seinem Leben eine andere Richtung gibt und mehr Freiheit wagt als bisher, dann empfinde ich Sinn in dem, was mein Beitrag dazu gewesen ist. Jemand hat einmal gesagt: ‚Sinn gibt es immer nur auf Zeit‘. Und ich füge hinzu: Womöglich nur in einem überschaubaren konkreten Bereich. Diese Momente sind es, an denen ich vorwärts und rückwärts etwas verstehe: Ich bin zwar auf Erden geboren, aber im Himmel wurde bestimmt, wer ich sein darf und wozu ich gebraucht werde. In der Bibel (1. Joh.3, 2) steht der starke Satz: Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Diesen Satz, diesen Sinn glaube ich. Wissen kann ich da noch nichts. Daran zu glauben, verändert etwas in meinem Blick von unten, in meinem Vorwärtsleben.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.09.2018
Eberhard Hadem