Schon wieder Silvester

Wort zum Tage
Schon wieder Silvester
31.12.2019 - 06:20
05.09.2019
Evamaria Bohle
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Heute dürfen wir das alte Jahr runterfahren. Gott sei Dank. Morgen gibt’s ein Neues. Vorher noch die Alben auf dem Smartphone sichten, einiges löschen und sich verlieren in der Cloud. Durch das Tagebuch scrollen. Instagram hat ein gutes Gedächtnis: All die Goldrandmomente. Bei anderen bleibt der Trauerrand unsichtbar und das Leben bunt. Gefällt mir. Wer schön sein will, muss schöner leiden. Zwinker-Smiley.

Ein ganzes Jahr auf der Festplatte. Zwölf Monate, die es in sich hatten. Was tun damit? „Speichern unter“, auf einen Stick ziehen oder doch lieber „Endgültig löschen? 2019 war ja auch nur eine Zahl, durch die das Leben rinnt.

Aber auf Facebook posten, wie klasse das Jahr war oder wie einem das Silvester-Theater auf die Nerven geht. Drei Ausrufezeichen. Keine zehn Pferde bringen mich heute Nacht ans Brandenburger Tor. Ausrufezeichen. Zu viele Menschen mit ungeklärten Sehnsüchten. Gruselsmiley. Was machen die da nur? Mindestens drei Fragezeichen.

Wir amüsieren uns, frieren, erfinden gemeinsam Sinn. Um Mitternacht umarmen wir einander und treiben die bösen Geister aus. Beten mit Raketen, „Ah“ und „Oh“ an den Himmel schießen, in lachende Gesichter schauen, Selfies machen und WhatsApp schreiben und fast keine Angst mehr haben. Obwohl das Netz zusammenbricht und das Foto für Oma erst um Drei Uhr in der Früh bei ihr „Ping“ machen wird: Hab dich lieb. Drei Herzen.

Nur die Hunde drehen durch, und die Katze kommt gar nicht mehr aus dem Bad. Das hat zum Glück keine Fenster. Wir gehen ja seit Jahren nicht mehr weg. Neujahrsansprache und Silikonstöpsel in den Ohren und dann ins Bett und frühestens Mitte Februar wieder aufstehen. Beate schreibt noch: Ich hasse Silvester. Bert ist schon Offline. Er geht ins Kloster zum Schweigen.

Derweil holt Trude das Silberputztuch aus der Schublade. Hinten links. Vor ihr auf dem Tisch stehen die Fotografien bereit. Die ganze Familie. Die Freundinnen. Die Lebenden und die Toten. Vergangenheit hat sie viel und fast jedes Bild ist eine Tür in eine ferne Welt. Die Rahmen sind etwas angelaufen. Trude tastet nach dem ersten Bild und beginnt zu polieren. Die Arthrose beißt in den Händen. Alt werden ist wirklich nichts für Feiglinge. Das hat Mae West mal gesagt. Die ist auch schon lange tot. „Aber ich bin noch da, lieber Gott.“ – Schon wieder Silvester, staunt Trude. Und morgen kommen die Kinder. Wie schön das ist.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

05.09.2019
Evamaria Bohle