Trotzdem lieben

Wort zum Tage
Trotzdem lieben
16.02.2018 - 06:20
10.01.2018
Evamaria Bohle
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Wohin mit dem Ärger über die erwachsenen Kinder, mit der Enttäuschung? Geliebte Menschen, die einfach tun, was sie für richtig halten. Die ihre Kindheit sprengen und ihrer Wege gehen: „In die weite Welt hinein“ mit Stock, Hut und Rollkoffer. Ohne Rücksicht auf Vater und Mutter. Das Kind besinnt sich nicht, sondern bricht den Kontakt ab. Grete zieht aus, umarmt ihre Freiheit, hinterlässt keine Adresse, antwortet auf keine Email und kommt nie zu Besuch. Nicht mal um finanzielle Unterstützung bittet sie mehr. Hans verirrt sich im Wald und zieht bei einer Hexe ein. Wird dick, macht in Lebkuchenhandel, hören Vater und Mutter über drei Ecken. Sie googlen nach „Wald“ und machen sich Sorgen.

 

Wohin mit dem Schmerz, dem Verlustgefühl, wenn die Kinder fort sind? Die geliebten Menschen. Gerade noch auf dem Dreirad, jetzt mit Dreitagebart und Terminkalender. Mit eigenem Baby im Bauch und eigener Meinung im Kopf. Die nicht hören wollen. Die zu selten zurückrufen, die Telefonate wegdrücken, die ihre Besuche doch wieder verschieben. Die Party machen, Schweine züchten, plötzlich Frau Doktor sind oder ihre Lehre schmeißen. Die in den Tag hinein träumen und so selbstverständlich nutzen, was sie vorfinden: Geld, Geduld und Liebe, Internet, Reisefreiheit und Sozialstaat. Sie gründen Familien, werden arbeitslos, fliegen nach Thailand – die erwachsenen Kinder. Der Rasen muss gemäht werden, das Leben verrinnt und an den Straßenlaternen vergilben kleine Zettel: Sohn verloren. Tochter vermisst.

 

Wohin mit der Trauer, der Verhärtung des Herzens wegen der erwachsenen Kinder? Geliebte, fremde Menschen. Hans hat die Hexe geheiratet, sie haben drei Zwerge und leben hinter den sieben Bergen. Zum Glück gibt es Skype. Alle lachen. Der Junge hat Ringe unter den Augen, aber ein neues Haus. Die Lebkuchen werden bis nach Übersee verkauft. Im Hintergrund strickt die Hexe. Sie winkt. Nein, von Grete haben sie auch lange nichts gehört. Dann müssen die Zwerge ins Bett: „Tschüss, Vater!“, sagt der Junge, und die Verbindung bricht ab. Früher haben sie sich ja auch nicht umarmt.

 

Wohin mit der Enttäuschung wegen der erwachsenen Kinder? Was tun mit der Traurigkeit, der Verhärtung des Herzens? Ich weiß es nicht. Ich kenne mich nicht aus mit verlorenen Söhnen und vermissten Töchtern. – Ich setze über sieben Berge hinweg auf die Liebe: die weitgereisten Lebkuchen essen, die Enttäuschung loslassen, auf ein Wunder hoffen und beten. Alleine ist das wohl schwer zu schaffen, das mit dem Verzeihen.

10.01.2018
Evamaria Bohle