Weiß

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Tim Arterbury

Weiß
von Pfarrer Hannes Langbein
12.06.2023 - 06:20
10.05.2023
Pfarrer Hannes Langbein
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Manchmal liegt der Tag vor mir wie ein weißes Blatt Papier: Was soll aus diesem Tag werden? Wie fange ich ihn an? Was, wenn ich mit dem falschen Fuß aufstehe? Maler oder Schriftstellerinnen kennen diesen Moment: Wenn das weiße Blatt Papier vor ihnen liegt und noch alles möglich ist: Mit welchem Satz beginne ich meinen Roman? Wohin führt mich der erste Pinselstrich? Wie anfangen? Wie beginnen? – „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer.“ So beginnt die Bibel. Und Gott sprach: „Es werde Licht!“ Das ist der erste Satz Gottes. Ob Gott lange überlegen musste? Dann geht alles sehr schnell, eines kommt zum anderen: Die Welt nimmt ihren Lauf: Ein Garten wird gepflanzt, Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis, Kain erschlägt seinen Bruder, die Menschen in Babel bauen einen Turm, der bis an den Himmel reicht... Plötzlich ist alles anders, als Gott es sich vorgestellt hatte. Und Gott würde seine Schöpfung am liebsten wieder ungeschehen machen: Mit den Wassern der Sintflut einmal alles wegwischen, noch einmal neu anfangen.

Davon träumen auch Menschen: „Wieder so rein, und so dumm sein, wie weißes Papier.“, singt Sven Regener mit seiner Band „Element of Crime“ – und träumt von einem Neuanfang nach einer verkorksten Liebe. Wieder ein unbeschriebenes Blatt sein. Noch einmal von vorne anfangen. Das geht nach einer Weile Leben nicht mehr. Oder doch? – Der Prophet Jesaja sagt: „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden.“ – Weiß wie der Schnee, frischer Schnee. Diese weiße, unberührte Fläche, die mitten im Winter das Herz wärmt, weil sie die Sehnsucht weckt: auch selbst „wieder so rein sein wie weißes Papier“. Aber was für ein Weiß ist das? – Weiß ist eigentlich nicht einfach weiß, sondern das Zusammenspiel der Spektralfarben: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett... – die Farben des Regenbogens, die für uns sichtbar werden, wenn weißes Licht auf ein Prisma trifft.

Ich wünsche mir nicht dieses unschuldige „dumme“ Weiß, sondern das farbgesättigte „bunte“ Weiß aus den Farben eines Lebens. Als Jesus mit seinen Jüngern in der berühmten Verklärungsgeschichte auf einen Berg steigt und ihnen dort von seiner Berufung erzählt, beginnen seine Kleider und sein Gesicht zu leuchten: „Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ Die Fülle der Lebensgeschichte Jesu verdichtet sich in einer Erfahrung des Lichts. In diesem Licht ist alles inbegriffen. In diesem Licht kann etwas Neues beginnen. Egal, wie ich aufgestanden bin; egal was schon auf meinem Blatt Papier steht.

Es gilt das gesprochene Wort.

10.05.2023
Pfarrer Hannes Langbein