Versuch mit einem Bonbon

Wort zum Tage
Versuch mit einem Bonbon
10.08.2020 - 06:20
06.08.2020
Diederich Lüken
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Der Junge wurde gemobbt. Als Außenseiter hatte er es ohnehin schwer genug. Nun kam noch die erklärte Feindschaft eines Klassenkameraden hinzu. Dieser ließ keine Gelegenheit aus, um den Außenseiter zu ärgern, zu quälen und vorzuführen. Eines Tages hatte der so gemobbte eine Idee. Er versorgte sich mit einem Päckchen Sahnebonbons und bot seinem Feind eines davon an. Der war überrascht, und nahm dieses Friedensangebot an. Für einen Tag herrschte Ruhe. Am nächsten Tag ging die Quälerei von vorne los. Das Bonbonopfer hatte nur für einen Tag gereicht. Dennoch hatte der Junge nach einer Verhaltensregel aus der Bibel gehandelt. Sie befindet sich im Buch der Sprüche, in dem die Weisheit Israels und der umliegenden Völker gesammelt wurde. Die Verhaltensregel lautet: „Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser, denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt häufen…“ (Sprüche 24,21.22). Die Absicht dieses Spruches ist klar: Der Kreislauf von Feindschaft und feindseligen Reaktionen, die wieder Feindschaft verursachen, kann nur überwunden werden, wenn der Feind in seiner Menschlichkeit und Bedürftigkeit ernstgenommen wird und man darauf hilfreich eingeht. Das kann den Feind dazu bringen, seine Feindschaft zu überdenken und zu bereuen; vielleicht schämt er sich sogar, seinen Kontrahenten so schäbig behandelt zu haben. Damit könnte die Feindschaft an ihr Ende kommen. Insoweit ist der biblische Spruch verständlich. Unverständlich allerdings wirkt auf den ersten Blick das Bild, das der Spruch verwendet. Was hat es mit den feurigen Kohlen auf sich, die man auf dem Haupt seines Feindes häufen soll? Verschiedene Erklärungen werden darüber verbreitet. Doch der Sinn ist offenkundig: Wer seinem Feind Gutes tut, beschämt ihn, sodass dieser rot wird. Das Gesicht wird ihm dabei heiß. Für diese Hitze sind die Kohlen auf dem Haupt ein Symbol. Dazu passt, dass es im alten Ägypten einen Bußritus gab, in dem das Häufen von glühenden Kohlen in einem feuerfesten Gefäß auf dem Kopf ein Zeichen eines Bußritus war. Ob der Feind aber durch diesen Bußritus sein Verhalten ändert, bleibt offen. Manchmal klappt es, wie bei dem Klassenkameraden, nur für einen Tag. Manchmal klappt es gar nicht, sondern ruft nur Spott und Zynismus hervor. Dennoch ist der Versuch, Feindschaft durch überraschende Zuwendung zu überwinden, den Versuch wert und letztlich für ein gutes Zusammenleben unverzichtbar.

 

Es gilt das gesprochene Wort!

06.08.2020
Diederich Lüken