Nur eine Geste

Wort zum Tage
Nur eine Geste
19.10.2020 - 06:20
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Ich öffne die schwere Kirchentür von St. Moritz in Augsburg, und bleibe wie angewurzelt stehen: Ein Kirchenraum ganz in weiß. Große runde Bögen über meinem Kopf lassen die Decke fast schweben. Und alles konzentriert sich auf eine Gestalt ganz vorne im Altarraum. Da schreitet, da fliegt mir jemand entgegen, die Haare wehen nach hinten, auch das Gewand wie vom Wind durchweht. Offene Arme, einer zeigt zum Himmel. Da kommt mir jemand entgegen, als hätte er nur auf mich gewartet. Er kommt irgendwie aus der Zukunft, aus einer anderen Sphäre.  Starker Empfang. 

Schritt für Schritt wage ich mich vor und genieße jeden Moment des Näherkommens. Durch das weiße Kirchenschiff gehe ich auf den Mann aus Holz in warmem Braun zu.  Ich begegne einem Bild vom Auferstandenen, das offensichtlich meinem inneren Bild nahekommt. Mein Herz schlägt höher. Diese Freundlichkeit, diese positive Energie, dieser Aufbruch. Stehen bleiben. Atmen. Still sein. Eine kleine Ewigkeit. Dann drehe ich mich um und sehe in den Nischen in beiden Seitenschiffen andere Gestalten aus Holz. Frauen, Männer, auch sie in Bewegung, fast dramatisch im Ausdruck. Jede und jeder zeigt mit einer ganz eigenen Geste und Haltung auf die Gestalt des Auferstandenen hier vorne. Bei einem ist es eher der nach vorne gerichtete Blick, beim anderen ein lang ausgestreckter Arm mit Zeigefinger. Eine Frau lächelt dich an, wenn du vor ihr stehst, während ihr Körper leicht nach vorne zeigt. Eine Momentaufnahme, eine Geste, bewahrt für die Ewigkeit. Was könnte meine Geste sein?

Es kann sein, dass ein Mensch geschaffen wird und ein ganzes Leben lang lebt, nur damit er ein einziges Wort spricht oder eine einzige Geste ausführt und das für den Heiligen tut.“ Der jüdische Mystiker Pinchas von Koretz hat diesen unglaublichen Gedanken geäußert. Er sagt weiter: „Und selbst wenn er in seinem Leben ansonsten nichts zustande bringt, …trotzdem war seine Erschaffung notwendig wegen jener einen Geste, die die Welt braucht und die nur er allein ausführen konnte.“ (*gelesen in Marion Küstenmachers Buch „Der Perlentaucher“, S. 135, Vier Türme Verlag 2015)

Meine eigene Geste. Ich bekomme ein Gefühl für meine Würde, für meinen Lebensauftrag, wenn ich bei diesen Figuren stehe mit Rabbi Pinchas im Ohr. Ja, es ist notwendig, dass es mich gibt. Durch mich soll etwas geschehen, was nur ich verwirklichen kann. Ich will in meine Geste, in meine Haltung hineinwachsen, und auf den Auferstandenen hinweisen.   Sie wird entstehen, ohne dass ich es mir vornehme.