Segnen

Wort zum Tage
Segnen
21.10.2020 - 06:20
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen - empfiehlt Martin Luther. Mit der kraftvollsten und zärtlichsten Geste, die das Christentum, das Judentum zu bieten haben, kannst du deinen Tag beginnen. Diese fragile Zeit zwischen Schlafen, Aufwachen und ins Tun und Machen kommen, diese fragile Zeit  soll dir gehören. Der Anfang des Tages – noch frei von Lärm und Eile, noch frei von dem, was dir heute begegnet, was dir aufgezwungen wird. Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen. Wie das gehen könnte? Ich mache es so:                                                                     Ich stelle mich aufrecht hin, beide Hände zum Himmel erhoben, dann neige ich mich zur Erde hinunter, richte mich wieder auf und lege beide Hände aufs  Herz:

Der Himmel über mir, die Erde unter mir und dazwischen bin ich.

Ich hole mir vom Himmel, was ich brauche für diesen Tag.

Dabei mache ich mit beiden Händen Pflückbewegungen, als würde ich Früchte pflücken von einem Baum -

Klarheit, Güte, Freundlichkeit, Stärke, Vertrauen

Alles andere lasse ich bleiben.

Die Arme fahren herunter und die Handflächen nach außen gekehrt wehren „alles andere“ ab.

Ich öffne mich für den Tag - die wie zum Gebet zusammengelegten Handflächen öffnen sich wie eine Blüte–

Ich segne die Welt – Segensgeste zur Welt hin

Und ich segne mich -  und dabei lege ich die Hände wieder verschränkt in die Herzgegend.

Darf ich das, mich selbst segnen? Fragt eine Frau, der ich das Ganze gezeigt habe. Sie war der Meinung, das dürften nur Pfarrerinnen und Pfarrer.  Es ist etwas ganz Kostbares, der Segen. Das schon. Er braucht Sorgfalt. Aber es ist auch das Demokratischste, was Religion zu bieten hat. Ob ich als Pfarrerin andere segne, als Mutter meine Kinder, als Freundin eine Freundin oder am Morgen mich selbst - es ist die gleiche Kraft von Gott, die da durch meine Hände fließt. Eine Wärme, ein Energiestrom. Eine Benedictio – etwas gut heißen…siehe, es war sehr gut. Die Welt gut heißen, mich selbst gut heißen, wenn ich mich berühre mit den Händen.  Ja, das darf ich. Das darf jede und jeder. Es ist ein zartes Bollwerk gegen alle Versuche, mich zu optimieren, zu bekritteln, auseinanderzunehmen.

Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen