Angst und Nächstenliebe

Angst und Nächstenliebe
Pfarrerin Dr. Stefanie Schardien
14.03.2020 - 23:20
20.02.2020
Dr. Stefanie Schardien

Angst und Nächstenliebe

Wenn es mal nur das Händeschütteln geblieben wäre. Letzten Sonntag war das noch meine größte Sorge. Im Gottesdienst hatte ich angesagt: Wir lächeln uns beim Verabschieden nur an. Trotzdem hat mir eine Frau dann ihre Hand entgegengestreckt, beharrlich. „Wir wollten ja eigentlich nicht…“ sag ich. Was für eine seltsame Zeit.

Nach dieser Woche wäre im Rückblick der fehlende Händedruck die kleinste Übung. Der Virus rollt auf uns zu wie eine Lawine, und wir haben nichts in der Hand, um ihn zu stoppen. Höchstens nehmen wir ihm die Wucht. Alles wird abgesagt, geschlossen, verschoben. Und jeden Tag lernen wir neu, was alles verzichtbar sein muss in den nächsten Wochen, damit wir andere nicht gefährden. Wie schnell unser so sicher geglaubtes Leben verletzlich ist.

Immer und immer wieder, nein wir dürfen nicht panisch werden, aber jeden Tag wird das schwieriger. So viele neue Fragen: Ein Bekannter soll auf die Besuche bei seiner Mutter im Seniorenheim verzichten  Natürlich hält er sich dran, er will ja den Virus auf keinen Fall unbewusst älteren Menschen weitergeben. Was wäre das für eine schreckliche Schuld? Nur, denke ich, wenn die alte Dame genau jetzt an Altersschwäche stirbt? Hätte ihr Sohn sie dann nicht doch lieber besuchen sollen, ja müssen?

 Auf einmal sind sie da, die Ängste, die wir bislang nur aus den Erzählungen der Großeltern kannten oder aus den Nachrichten von weit weg: Ängste vor Mangel, vor Verlust und Tod. Reflexartig fahren manche die Ellbogen aus, kaufen den Kranken das Desinfektionsmittel weg. Oder klauen es, wie bei uns im Gemeindehaus. Psychologisch lässt sich das leicht erklären: In der Not ist sich erstmal jeder selbst der Nächste.

Nein, auch Christen sind davor nicht gefeit. Martin Luther, Gründervater der evangelischen Kirche, hat das am Ende des Mittelalters so erlebt: Als die Seuchen grassierten, sind alle, die fit und reich waren, panisch aus den Städten geflohen. Ihre Kranken und Bedürftigen ließen sie einfach zurück. Luther fand das schlimm. Natürlich wusste er um die Gefahren. Trotzdem schrieb er: „Wo aber mein Nächster mein bedarf, will ich weder Orte noch Personen meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen.“ Alte Worte, klare Ansage.

In den nächsten Wochen wird es sehr darauf ankommen, wie wir miteinander umgehen: Ob wir uns im Stich lassen. Oder ob wir es schaffen, mehr zusammenzurücken, innerlich. Als Riesen-Corona-Schicksalsgemeinschaft. Wo mein Nächster mein bedarf… Nächste gibt es jetzt zuhauf: alle, die echt heftig erkranken.  Die Unterstützung benötigen, z.B. bei der Kinderbetreuung, damit sie anderen helfen können. Deren Geschäft das finanzielle Aus droht. Und wir werden Hoffnungsgeschichten gegen all die Sorgen und Angst und den Tod brauchen. Zuhören, trösten, Mut machen. Viele suchen neue Möglichkeiten im Miteinander: Neue Begrüßungen entstehen. Musiker streamen Wohnzimmerkonzerte, Junge bieten älteren Menschen Hilfe beim Einkaufen an. Den anderen in den Blick zu nehmen, das lehrt uns hoffentlich die gemeinsame Not
Bleiben Sie behütet in dieser Zeit und helfen Sie mit, dass andere behütet bleiben.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Nacht.

20.02.2020
Dr. Stefanie Schardien