Keine Vorsätze

Keine Vorsätze
mit Pfarrer Alexander Höner
08.01.2022 - 23:50

Guten Abend, meine Damen und Herren!

Den außergewöhnlichsten Jahreswechsel  habe ich vor 17 Jahren erlebt. Und zwar am so ungefähr weitesten von Deutschland entfernten Punkt der Welt. Auf Tonga - dem Inselstaat im Pazifik, drei Flugstunden von Neuseeland entfernt. Silvester 2004. Über ein Stipendium studierte ich damals eine zeitlang Theologie in der Südsee. Und dann kam der unvergessliche Jahreswechsel. Den gesamten Tag über half ich meiner Gastfamilie dabei, das Essen vorzubereiten. Denn Essen ist für ein Fest auf Tonga sehr wichtig - viel Essen! Wenn die Gäste später nicht mit überschüssigem Essen in Korbtaschen nach Hause gehen, dann war es kein gutes Fest.

Am Abend stieg ich auf die Ladefläche eines Pick-Up-Truck. Ich dachte, es geht zu Freunden. Es war schon dunkel. Am Ende einer Straße weit hinten war es aber hell. Wir kamen immer näher und ich traute meinen Augen nicht. Wir standen vor einem großen Friedhof.

Unzählige Kerzen brannten dort, große bunte Leinentücher mit Namen und Motiven waren aufgespannt. Überall Blumenschmuck, echt und unecht, Hauptsache grelle Farben. Die Grabstätten waren ummauert und die eingefasste Erde war keine Erde sondern heller Strandsand. Die Leute aßen und tranken zusammen, lachten laut, unterhielten sich und tanzten zur Musik. Eine unglaubliche Atmosphäre. Generationen waren da verbunden - über den Tod hinaus. Gemeinsam mit den Toten ging’s ins neue Jahr. Das ist im überwiegend christlichen Tonga ein wichtiges Ritual.

Etwas Ähnliches habe ich erlebt, als ich jetzt zwischen den Jahren meine Mutter mit meinen beiden Kindern in Hamburg besuchte. Meine Mutter wollte unbedingt auf den Friedhof. Wir besuchten die Gräber meiner Großeltern und meines Vaters. Plötzlich sagte meine Mutter laut in Richtung der Grabsteine: „Schaut mal, wie groß die beiden Kinder schon geworden sind.“ Und meine Kinder? - wie selbstverständlich: „Schön, dass wir mal wieder bei Euch sind. Wir hoffen, Euch geht’s gut.“ Sie sprachen zu den Verstorbenen. Da war es wieder – das Tonga-Gefühl. Für meine Mutter und meine Kinder ist die Verbindung mit den Verstorbenen viel selbstverständlicher als für mich. Für sie sind die Verstorbenen jetzt schon gut aufgehoben bei Gott und dadurch auch noch mit dem Leben verbunden.

Wenn ich mich frage, was mich bei diesem Jahreswechsel am meisten gestärkt hat, was mir am meisten Mut für das neue Jahr gegeben hat, dann merke ich: es ist die Selbstverständlichkeit, mit der meine Mutter und meine Kinder zu den Verstorbenen gesprochen haben und die Erinnerung an das Silvesterfest auf Tonga. Denn beides macht mir klar, wie häufig ich trotz meines Glaubens diese zusätzliche Dimension im Leben aus den Augen verliere: dass wir nämlich allesamt in Gott verbunden bleiben und weiter als große Gemeinschaft unterwegs sind. Ich bin nicht der erste, der das Leben zu meistern hat. Es sind schon vor mir Menschen durch dunkle Täler und über lichte Höhen gegangen. Auf seltsame Weise wird der Blick zurück zur Spur in die Zukunft. Kommen Sie behütet durch die Nacht und durch das neue Jahr.