Gott der Verlorenen

Gott der Verlorenen
mit Pfarrer Benedikt Welter aus Trier
13.05.2023 - 20:55
02.02.2023
Benedikt Welter

Einen guten ESC – Abend, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer,

Ein ganzer Fernsehabend im Ersten voll mit Musik und Show. Und so bin ich mit dem WortzumSonntag zu Gast in einem Musikfachgeschäft in Sulzbach im Saarland. Randvoll mit Instrumenten aller Art, so dass man es richtig krachen lassen kann.  

So wie das „Lord oft the lost“ gleich machen wird. Die Band, die Deutschland beim ESC vertritt. Lord oft the lost, „Gott der Verlorenen“ – wenn das keine Steilvorlage für das Wort zum Sonntag ist!

Ihr Song: Blood and Glitter, Blut und Glitzer. Darin heißt es immer wieder: blood and glitter / saint and sinner / we do fall before we rise: Blut und Glitzer / Heiliger und Sünder / wir fallen, bevor wir aufstehn.

Dieser Text löst eine lebendige Erinnerung in mir aus. Vor wenigen Wochen.  In Hamburg auf der Langen Reihe. Abendessen in einem Restaurant. Ich geh‘ zwischendurch vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Eine junge Frau spricht mich an: „Haben Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich?“ Sie hält mir einen gebrauchten coffee to go Becher hin. Ihr Blick ist offen und etwas verschämt zugleich. Und, ja, sie sagt „Sie“, nicht wie sonst doch eher üblich DU, wenn jemand um Kleingeld fragt. Sie hat eine Wollmütze auf dem Kopf und trägt ein Kleid und eine leichte Jacke. Dabei ist es kühl an diesem Abend. Und feucht: nach mehreren Schauern. Ich gebe ihr Geld. Sie lächelt: „Darf ich auch noch eine Zigarette haben?“ „Klar“, sage ich, „Tabakwaren sind Allgemeingut“. Ich zünde ihr die Zigarette an, sie macht einen tiefen Zug, lächelt wieder, hält mir ihre rechte Hand hin, die dunkel erdverschmutzt ist und sagt: „Guck mal, hier an meinem Daumen.“ Aha, jetzt das DU. Ich muss näher hinschauen, beuge mich ein wenig zu ihr – und nehme jetzt auch den Geruch wahr. Den von ihrer Kleidung, irgendwie modrig, wenn Feuchtes nicht trocknen kann; aber hinter diesem feuchtmodrigen spüre ich noch einen zweiten, einen zarten Duft: der von Seife.

In ihrem Daumen steckt ein Splitter. „Du musst das einweichen, dann löst sich der Splitter leichter“, schlag ich ihr vor. „Ah, das bekomme ich hin“, sagt sie. „Danke! Glaubst du auch, dass die Welt untergeht?“ „Na, ja, irgendwie schon, aber nicht so schnell“, antworte ich, „so fünf Milliarden Jährchen hätten wir wohl noch – sagen die Sternengucker.“ Sie lächelt wieder. „Schönen Abend dir noch – und danke fürs Geld und für die Zigarette.“

 

O du Gott der Verlorenen! Genau jetzt sehe ich diese junge Frau vor mir: mit ihrem Duft von Moder und Seife um sich und überzeugt vom nahen Ende der Welt:

blood and glitter / saint and sinner / we do fall before we rise: Blut und Glitzer / Heiliger und Sünder / wir fallen, bevor wir aufstehn. Singt „Lord oft he Lost“ nachher.

Wird sie bald aufstehn? Oder ist sie eigentlich gar nicht „gefallen“? So viele, viele andere, gerade junge Menschen und immer mehr Frauen, ohne Wohnung, unterwegs auf den Straßen unserer Städte . Vielleicht hoffen sie immer noch auf eine der vielen Initiativen, auch die von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen. Auf Gruppen und einzelne Menschen, die zum Schutz für wohnungslose Frauen und andere ringen und sich dabei oft mit den Verantwortlichen von Stadt oder Kommune anlegen. Housing first, zuerst schon mal eine Wohnung besorgen; dann sehen wir weiter, was an Unterstützung nötig und möglich ist.

Der Gott der Verlorenen, so bete ich, soll doch bitte mit dafür sorgen, dass die junge Frau in der Langen Reihe in Hamburg und die vielen anderen auch noch viel viel mehr Gelegenheiten bekommen, lächeln können. Obwohl (oder weil?): „we do fall bevor we rise –wir fallen bevor wir aufstehn“.

Der Band Lord of the Lost wünsche ich viel Erfolg beim ESC – vielleicht schreiben sie ja mal einen Song „Mould and Soap“ / Moder und Seife.

Ihnen allen wünsche ich einen schmissigen und spannenden ESC-Abend und einen guten Sonntag.

 

02.02.2023
Benedikt Welter