Gebet verbindet

Gebet verbindet
mit Pfarrer Benedikt Welter aus Trier
18.11.2023 - 23:35
05.05.2023
Benedikt Welter

Einen guten späten Abend, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer.

Ich bete. Ja, es gehört zu meinem "Tagesgeschäft". Morgens, mittags, abends und nachts. Beten gehört zu meinem Berufsalltag: In der Kirche nennen wir es Stundengebet. Und Kernbestand dieses GebetsTagesgeschäfts sind die Psalmen. Das Gebetbuch der Bibel.

Manchmal huschen meine Augen über die Zeilen des Psalms, der gerade dran ist, flüstern die Lippen Worte und Sätze. In diesen Tagen aber passiert es mir immer wieder, dass ich richtig aufschrecke und das zuletzt Gelesene nochmal laut wiederhole; Sätze wie diese hier: "Die Leichen deiner Knechte haben sie zum Fraß gegeben den Vögeln des Himmels, das Fleisch deiner Frommen den Tieren der Erde. Ihr Blut haben sie wie Wasser vergossen … Das Stöhnen des Gefangenen komme vor dein Angesicht! Durch deinen mächtigen Arm erhalte die Kinder des Todes am Leben."

Mehr als zweieinhalbtausend Jahre sind diese Worte alt. Ich zucke zusammen, verbinde sie mit den aktuellen Schreckensnachrichten und höre sie geschrien am 7. Oktober fern in Israel. Bilder werden wach. Mehr als verstörende Bilder, wie aus einem schrägen Computerspiel, die verzerrt um die Welt gingen.

"Das Stöhnen des Gefangenen komme vor dein Angesicht! Durch deinen mächtigen Arm erhalte die Kinder des Todes am Leben."

"Was ist mit den Geiseln?", geht mir durch den Kopf. Mit den Kindern? Den Alten?

Ich bete uralte Texte, und wie ich sie bete, füllen aktuelle Nachrichten mein Beten mit ganz neuen Bildern und Ereignissen.

Das Gebet murmelte dahin – und jetzt schreit es mich an; ich soll, ich muss mit-fühlen. Mit den Menschen in Israel, denen die Verheißung von einem sicheren Leben für Jüdinnen und Juden geraubt worden ist. Mit den Menschen in Gaza, die ohnmächtig eingepfercht sind in eine Tragödie.

"Not lehrt beten", heißt eine Redewendung. Aber es müsste umgekehrt sein: Beten müsste die Not etwas lehren und sie verändern.

Morgen ist Volkstrauertag in unserem Land. Da denke ich an meinen Opa, der den Krieg als Soldat überlebt hat. Psalmen beten war ihm fremd. In seinem Soldatenrucksack hatte er ein kleines Buch mit Gedichten von Reinhold Schneider. Ein Gedicht hat es meinem Opa besonders angetan. "Das hat mir Kraft gegeben, als ich nicht mehr wusste, ob es überhaupt noch weitergeht", hat er mir mal gesagt.

Da heißt es:

Allein den Betern kann es noch gelingen / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten

Und diese Welt den richtenden Gewalten / Durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: / Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,

Was sie erneuern, über Nacht veralten, / Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

Meinem Opa gaben diese Zeilen Hoffnung. Mir sagen sie heute: Nicht verzweifeln, nicht resignieren! Das gilt für mich selbst und für alle, die beten, um die Not eines Besseren zu belehren. Nicht müde werden und nicht abstumpfen angesichts der unfassbaren Nöte, die auf andere Menschen und auf uns hereinprasseln.

Nicht müde werden: Und am Volkstrauertag morgen im Gedenken an Mütter und Väter, Groß- und Urgroßväter und –mütter in unserem Land auch für die vielen Menschen beten, die weit weg von uns leben und leiden, und die uns im Gebet doch ganz nah werden können.

 

05.05.2023
Benedikt Welter