Du bist Gottes Kind

Du bist Gottes Kind
Pfarrer Benedikt Welter
14.09.2019 - 23:35
02.01.2019
Pfarrer Benedikt Welter

Einen guten späten Abend verehrte Damen und Herren!

“Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!“ – so reimt Heinrich Heine in seinen „Nachtgedanken“; zwei berühmte Zeilen.  „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, dann ...“ – ja, dann finde ich zwar noch in den Schlaf, irgendwann; aber unruhig werde ich schon.

Vor ein paar Wochen habe ich mit einigen Kollegen aus Saarbrücken einen Ausflug in die Mitte von Deutschland unternommen: auf die Wartburg in Eisenach, nach Erfurt und Weimar. An einem späten Abend sitze ich in der Hotelbar. Ein Mann aus der Stadt, ungefähr in meinem Alter, will wissen: „Wo kommen Sie her?“ - „Aus Saarbrücken, aus dem Saarland.“ „Eure Politiker machen mich zum Nazi“, fährt er mich an. „Wie bitte?“ – „Ja“; sagt er: als „roter Pionier in der DDR“ hab‘ ich mich damals, vor dreißig Jahren ins Bett gelegt – und als „Faschist“ bin ich aufgewacht.“ 

Der Mann mir gegenüber fühlt sich zutiefst verletzt; immer scheinen irgendwelche anderen Leute darüber zu bestimmen, wie er sich zu sehen hat. Hängen sie ihm Etiketten an. Messen ihn mit ihren Schablonen. Bewerten ihn...

Dieses Nachtgespräch in der Hotelbar beschäftigt mich.... Ich „denk’ … an Deutschland…“ – nicht nur in der Nacht: Worum geht es bei solchen aufgeheizten Themen und Vorwürfen, gerade in diesem Jahr 2019, im dreißigsten Jahr von „Deutschland einig Vaterland“? Mir scheint, es geht um Ansehen und um Würde. Es geht um die eigene Biographie, um Lebensgeschichten und ihre Deutung.

Da ist das Gefühl, dass andere dir deine Biographie entreißen. Dass du dich nicht selbst erklären kannst. Und daraus entsteht eine ganz tiefe Verletzung. Mehr als Essen und Trinken braucht der Mensch Ansehen; er und sie muss spüren und fühlen können, dass sie eine Würde haben. Aber um diese Würde sehen viele Mitbürgerinnen und Mitbürger sich anscheinend gebracht. Schon dadurch, dass andere ihnen irgendeiner Gesinnung zuschreiben oder sie einer Gruppe zuordnen – egal, ob die Betroffenen sich darin wiederfinden.

Als Christ hilft mir in so einer Gemengelage aus Meinungen und Verletzungen ein Wort, das mir und jedem schon bei der Taufe gesagt worden ist und seither immer wieder mal: Du bist Gottes geliebtes Kind. Und Gottes Liebe gibt dir eine Würde, die dir niemand und nichts nehmen kann; nicht einmal du selbst; nie. Das gibt standing.

Und weil ich Gottes geliebtes Kind bin, sehe ich bei jedem und jeder anderen auch diese ganz besondere Würde. Das gibt mir einen neuen Blick auf die Menschen; es entsteht so etwas wie Ehrfurcht vor der und dem anderen und vor ihrer jeweils ganz eigenen Lebensgeschichte.

„Denk’ ich an Deutschland in der Nacht“: Statt sich um den Schlaf zu bringen, sollten gerade die Menschen in diesem Land einander wieder mehr voneinander erzählen. Wie wer etwas erlebt hat. Dann werden sie vielleicht auch besser verstehen, dass und warum eine Verletzung, die doch schon dreißig Jahre alt ist, eben immer noch weh tut. 

Geschichte bleibt. Erfahrungen bleiben. Und sie werden „ihren“ Zeitpunkt finden, wo sie wieder zu Tage kommen. Zornig aufbrechen: wo jemand sich um die eigene Biographie und damit um die Würde betrogen fühlt. Versöhnt hoffentlich aufblühen: wenn Menschen sich selbst und gegenseitig ihres Ansehens vergewissert haben.

Da ist Gott alles andere als sparsam. „Würdig und recht“, sagen wir in der katholischen Messe, stehen wir vor Gott. Menschen dürfen vor einem Gott stehen, der jeden Menschen als sein Kind betrachtet; das schafft Würde und Recht. Alles andere als billig. Eher: Wow! Ich bin WER – statt: ich bin irgendwas.

Einen guten Sonntag voll Ihrer eigenen Würde wünsche ich!

02.01.2019
Pfarrer Benedikt Welter