Unideal

Unideal
Pfarrer Gereon Alter
12.10.2019 - 23:50

Guten Abend, meine Damen und Herren.

Warum eigentlich sehnen wir uns immer nach dem, was gerade nicht ist?

Ich bin erst vor einigen Tagen aus dem Urlaub heimgekehrt. Als ich aufgebrochen bin, die große Sehnsucht: Weg! Raus aus dem Alltag, Neues erleben! Gegen Ende dann genau umgekehrt: Endlich wieder nach Hause, zu den vertrauten Menschen, zur gewohnten Arbeit! Ist doch verrückt, oder? Ich könnte doch zufrieden sein mit dem, was jetzt gerade ist. Aber ich sehne mich nach dem jeweils anderen. Wenn es kalt ist, nach der Wärme, und wenn es warm ist, nach der Kühle. Bin ich allein, wäre ich gern bei anderen, und hab ich die anderen um mich, möchte ich auch gern mal wieder allein sein. Ich denke, Sie kennen das.

Warum ist das so? Warum sehnen wir uns immer nach dem, was gerade nicht ist? Darüber zerbrechen sich Menschen schon seit Jahrtausenden die Köpfe. Denn es ist eine der wichtigsten Fragen für uns Menschen und eine hoch politische noch dazu.

Wir haben offenbar alle eine Vorstellung davon, wie unser Leben und unsere Welt im Idealfall aussähen. Kein Entweder-Oder, kein Vorteil und Nachteil, sondern alles, ohne dass irgendetwas fehlt. Die vollkommene Liebe, der perfekte Friede, bildlich gesprochen: das Paradies. Vorstellen können wir uns das. Nur leben wir leider nicht in einem solchen Paradies, sondern in einer Welt, die immer und immer wieder hinter Idealvorstellungen zurückbleibt. Diese Spannung zwischen dem, was doch sein könnte, aber leider nicht ist – diese Spannung ist der Grund für unser fortwährendes Sehnen nach dem jeweils anderen.

So sieht es zumindest die christlich-abendländische Tradition. Sie deutet die Sehnsucht nach dem anderen als eine Sehnsucht nach dem Paradies, wo Gott alles ganz und heil werden lässt. „Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es Ruhe findet, in dir.“ So hat es der heilige Augustinus formuliert.

Und das ist eben nicht nur ein frommer Gedanke, sondern auch ein hoch politischer! Warum? Weil er uns daran erinnert, dass wir immer nur einen Teil des Ganzen in Händen halten. Niemand ist im Besitz der ganzen Wahrheit. Keiner hat die ideale Lösung. Wir müssen aufeinander hören und miteinander um die Wahrheit ringen. Das ist eine ganz klare Absage an jede Form von Diktatur und jede Art von Meinungsmonopolismus. Und wir müssen noch etwas: aushalten, dass wir selbst beim redlichsten Aufeinander-Hören und Miteinander-Ringen nicht für jedes Problem die perfekte Lösung finden. „Das Leben ist unideal“, hat kürzlich eine Bekannte zu mir gesagt.

Deshalb beobachte ich mit einiger Sorge, dass sich in unserer Gesellschaft zunehmend Menschen und Gruppen hervortun, die den Anspruch erheben, im Besitz der ganzen Wahrheit zu sein. In der Klimadebatte lässt sich das gut beobachten, am rechten Rand unserer Gesellschaft und auch in der katholischen Kirche. Denn auch da gibt es nicht Wenige, die der Meinung sind, dass sie allein beurteilen könnten, was wahr und unwahr, was katholisch und nicht mehr katholisch ist, und die gleich in Panik geraten, wenn mal etwas ergebnisoffen diskutiert werden soll.

Wir werden die perfekte Kirche nicht bekommen. Sie wird immer mit Fehlern behaftet sein. Wir werden auch nicht die perfekte Antwort auf den Klimawandel und die vielen anderen Herausforderungen unserer Tage finden. Tun wir, was in unseren Kräften steht. Halten wir aus, dass Andere es anders sehen. Ringen wir mit ihnen um die Wahrheit. Vor allem aber: Trauen wir der Sehnsucht, die wir in uns tragen – dass es das, was uns zum Glück noch fehlt, tatsächlich gibt, und dass es sich lohnt, tagein tagaus danach zu streben.

Ich wünsche Ihnen einen mit Sicherheit nicht perfekten, aber vielleicht doch ruhigen Sonntag.