Verzweifelte Familien

Verzweifelte Familien
Pastorin Annette Behnken
23.06.2018 - 23:30
12.01.2018
Annette Behnken

Super - ein Buch, mit dem ich alles begründen kann, was ich will. 31.171 Verse, 738.765 Worte - die Bibel. Mit ihr könnte ich, wenn ich das denn wollte, zum Beispiel begründen, dass Sklaverei was ganz Normales ist. Und dass man keine Störche essen soll. Wenn man das wollte, könnte man mit der Bibel auch begründen, dass Homosexualität nicht was ganz Normales ist. Und auch, dass man keine Klippdachse essen soll. Schweinefleisch übrigens auch nicht. Und dass Frauen in der Kirche schweigen sollen. Steht alles in der Bibel. Trotzdem spreche ich in der Kirche, finde Sklaverei nicht normal, Homosexualität dagegen sehr und Schweinefleisch, Störche und Klippdachse esse ich nur deshalb nicht, weil ich sowas nicht mag. Aber: Steht in der Bibel. Nur: genauso steht da, dass es völlig okay ist, zu essen, was man will. Dass alle Menschen, egal welchen Geschlechts und welcher Nation, gleichwertig sind. Und dass die selig sind, die sanftmütig und barmherzig sind. Was nun?!

Mit der Bibel und ja auch mit vielen anderen heiligen Schriften kann man Vieles begründen, im Zweifel sogar Unfug und großes Unrecht. Aber: in meinen Augen ist das Missbrauch der Bibel.

Am Donnerstag hat der amerikanische Präsident die Trennung von geflüchteten Familien an der mexikanischen Grenze beendet. Nun kommen die Kinder mit den Eltern zusammen in Arrest. Das ist weniger katastrophal als die Familientrennungen, aber immer noch eine gnadenlose Politik. Man kann, muss aber nicht, First Lady sein, um zu wissen, dass die Familientrennungen eine menschliche Katastrophe und ein politisches Armutszeugnis waren. Und man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt, wenn der amerikanische Justizminister solches Handeln auch noch mit der Bibel begründet. Das ist religiöse Überhöhung einer brutalen, gnadenlosen Politik.

Wenn man die Bibel wörtlich versteht, kann man alles mit ihr begründen und von allem das Gegenteil. Sie ist voller Widersprüche. Weil sie Geschichten vom Leben erzählt! So vielfältig und widersprüchlich, wie das Leben selbst. Aber all diese Geschichten kreisen um eine Mitte.

Und die finde ich da, wo einer Jesus fragt: „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Der Herzschlag der Bibel: die Nächstenliebe. Für viele, auch für mich: der Herzschlag des Lebens, aus dem heraus ich handeln kann und sagen, was meine tiefe Überzeugung ist: dass dies die stärksten Kräfte unseres Menschseins sind: Barmherzigkeit. Nächstenliebe. Mitgefühl.

Ich glaube sicher, dass dies notwendige Gegenkräfte sind gegen die menschliche und politische Verrohung die derzeit an vielen Grenzen passiert - oder zu passieren droht. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA. An den Grenzen Deutschlands. An den Grenzen Europas.

12.01.2018
Annette Behnken