Sirenen im Kopf

Am Sonntagmorgen

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Sirenen im Kopf
Wenn Nachrichten Erinnerungen wecken
24.07.2022 - 08:35
10.06.2022
Pfarrer i.R. Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

 

 
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„Jetzt ist alles wieder da“, meinte Lieselotte Hemmerling, Pfarrerswitwe und mit 108 Jahren die älteste Bürgerin Kassels.

Wieder da war mit einem Schlag die eigene Kriegserfahrung. Denn die gelernte Buchhändlerin ist am Tagesgeschehen interessiert, nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Kriegsbilder und Sirenen-Töne aus der Ukraine jedoch ließen den Zweiten Weltkrieg in ihr lebendig werden.

 

Am 22. Oktober 1942 wurde Kassel massiv bombardiert. 10.000 Menschen starben in dieser Nacht. Und 80 Prozent der Gebäude wurden zerstört, darunter fast die gesamte Altstadt. Die junge Pfarrerswitwe Lieselotte sieht den roten Himmel über Kassel - noch in 40 Kilometer Entfernung.

Sie wusste: dort leben ihre Eltern. Und sie besucht die Eltern im ausgebombten Kassel.

 

Lieselotte Hemmerling:

„ … und da lagen überall die Leichen rum.

Und das ist ein Bild geblieben, was sich so eingeprägt hat:

dass man da drumrum gehen musste und so. Das ist noch so eine Erinnerung.“

 

Die aktuellen Kriegsbilder aus Europa rufen eigene Kriegserfahrungen wach.

Und das betrifft nicht allein Frau Hemmerling. Vielen Alten ging und geht das so, sagt Charlotte Bellin, Leiterin des Evangelischen Altenheims, in dem die alte Dame wohnt. Wie gebannt, erzählt Bellin, saßen die Bewohnerinnen mit Kriegsbeginn vor dem Fernseher, elektrisiert und verstummt zugleich.

Von einem auf den andern Tag war Krieg plötzlich ein Thema.

 

Charlotte Bellin:

„während sonst eigentlich das Thema Krieg in dem Alltagsleben hier im Heim - also ich arbeite jetzt seit fast 40 Jahren in der stationären Altenhilfe - selten mal Thema gewesen ist.

Und ich hätte nie gedacht, dass das so schnell wieder rausexplodiert.

Zum Teil haben sie geweint, zum Teil sind sie einfach sprachlos geworden.“

 

Natürlich waren die Jahrzehnte nach dem Krieg voll von Kriegsgeschichten.

Ich habe endlos Geschichten aus dem Krieg gehört - von Eltern und Großeltern.

Aber meistens waren das harmlose Geschichten - oft mit einer gewissen Komik.

Die verheerenden Erfahrungen, die traumatischen Erlebnisse - die wurden in aller Regel nicht erzählt. Sie konnten nicht erzählt werden.

Die „inneren Landschaften mit Brandflecken“ (1) wurden weggepackt und im Seelenspeicher verschlossen.

Und dann - ohne dass die alten Leute es gewollt hätten - aktivieren die Sirenen aus der Ukraine die Sirenen im Kopf. Für manche der so genannten Kriegskinder sind Bilder wie die aus der Ukraine wohl so was wie ein Trigger. Der Textilkaufmann Kurt z.B., 1943 geboren, ist „erfolgreich im Beruf und ein engagierter, gut gelaunter Familienvater, immer unter Volldampf.“ (2)

Plötzlich hatte er diese verrückten Träume. Der Himmel war dunkel und er sah nur Flugzeuge. Ob er die tatsächlich je gesehen hat, weiß er nicht. Kurt, der nie weinte, hat plötzlich mit Tränen zu kämpfen. Wenn Situationen irgendwie emotional sind, bei Abschieden zum Beispiel. Kurt sagt:

 

Kurt:

„Ich war jemand, der immer Scherze machte, ... der überall beliebt war - weil er immer gut drauf war.“

 

Kurt beginnt, sich mit seiner Geschichte als Kriegskind zu beschäftigen.

Er erfährt, dass er sämtliche Bombenangriffe in einem Keller in Düsseldorf erlebt hatte. Die Mutter habe ihn nicht stillen können - wegen der ständigen Angst. Er aber sei ihr Sonnenschein gewesen, während es ringsum so viel Finsternis gab. „Sonnenschein“ Kurt weiß heute:

 

Kurt:

„Dieses Gefühl, die Welt geht unter, das steckte ja ganz tief in mir.“ (3)

 

Jahrzehntelang wurde über Kurts frühe Jahre nur mit schwarzem Humor geredet.

 

Kurt:

„Unser Kurt wurde 43 in Düsseldorf geboren. Das hat gut geklappt.

Zwischen zwei Bombenangriffen.“

 

Ach, wenn es nur um die Alten ginge, die Kriegskinder! Mittlerweile beschäftigen sich einige Autorinnen mit den Kriegsenkeln. Viele dieser Kriegsenkel, „sagen über sich, ihnen fehle der feste Boden unter den Füßen.“ (4) Dabei sind wir Friedenskinder in den besten aller Zeiten aufgewachsen. Zumindest in Westdeutschland hatte es uns an nichts gefehlt. In vielen Fällen offenbar doch! Denn „Kinder sind äußerst feinfühlig. Sie spüren selbst jenes Grauen, das ihre Eltern tief in sich vergraben und deshalb nicht mehr in ihrem Bewusstsein haben.“ (5)

 

Esther Schweins, 1970 geboren, leidet jahrelang unter einem Albtraum. Sie trägt Zöpfe, eine weiße Bluse und ein blaues Dirndl. Sie läuft auf einer Wiese umher und hat einen Strauß Gänseblümchen in der Hand. Ein entsetzlicher Krach am Himmel reißt plötzlich die Erde auf, es wird dunkel und sie kann nicht atmen.

 

Erst als Erwachsene spricht Esther Schweins über diesen Traum mit ihrer Mutter. Die Dunkelheit und der „Krach am Himmel“, von denen die Tochter erzählt, lassen die Mutter weinen. Der Albtraum der Tochter ist ihr eigenes Erleben aus 1942.

1942 - da ist die Mutter fünf Jahre alt, hat das Haar zu zwei Zöpfen geflochten und trägt ein blaues Dirndl. Sie stiehlt sich davon, „um auf einer Wiese für ihre Mutter Gänseblümchen zu pflücken. Die Mutter freut sich, stellt die Blumen in eine Vase auf die Kommode, als der Bombenalarm losgeht.“ (6) Nach dem Angriff gibt es kein Haus mehr, keine Kommode und natürlich auch keine Gänseblümchen. Esther Schweins hat das Trauma ihrer Mutter geträumt, sie spürte das Grauen, das die Mutter tief in sich vergraben hatte.

Im 18. Kapitel beim Propheten Ezechiel heißt es:

 

„Was habt ihr unter euch für ein Sprichwort:

>Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden<?“

 

Ja so ist das. Nachgeborene müssen auslöffeln, was Generationen vor ihnen eingebrockt haben.

Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden davon die Zähne stumpf.

Und in der Bibel heißt es auch:

„Die Missetat der Väter wird heimgesucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied.“

So ist das.

Aber: so soll es nicht bleiben.

 

„Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne.“

 

Das heißt nicht „Schwamm drüber“! Nicht: Schluss-Strich!

Hier geht es um anderes: um Umkehr.

 

„Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugutekommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.vMacht euch ein neues Herz und einen neuen Geist … Denn ich habe kein Gefallen am Tod…“

 

Und was tun?

Die Leiterin des Kasseler Altenheimes hat entschieden, was in den Menschen vorgeht, vor Gott zu bringen.

 

Charlotte Bellin:

Und dann haben wir eben innerhalb von ein paar Tagen ein Friedensgebet installiert, was seitdem - das ist jetzt seit Anfang März - täglich jeden Montag um 10:45 Uhr hier stattfindet im Andachtsraum. Wird übertragen in die Zimmer und wir wissen, dass einige Bewohner auch in den Zimmern sitzen und zuhören, wo wir vermuten, dass sie sich vielleicht mit ihren Emotionen auch nicht im öffentlichen Andachtsraum zeigen wollen. Aber man kann sagen, dass so zehn bis 15 Leute mithören.“

 

Einige der Hochbetagten gestalten das Friedensgebet mit. Und bringen so, was sie bewegt, vor Gott. Sie tauschen sich mit anderen aus und erfahren Trost - manchmal allein schon, weil sie sich mitteilen, ihre Angst mit anderen teilen.

 

Niemand muss mit der eigenen Biografie allein fertig werden. „Und doch machen Menschen auch die Erfahrung: Im bloßen Erinnern an das, was ihnen widerfahren ist, liegt noch keine Erlösung.

Die Seele erholt sich von den schrecklichen Bildern nicht allein durch Rückblicke. Um mit heillosen Erinnerungen fertig zu werden und sich aussöhnen zu können, muss diese Last der Kinderseelen verwandelt werden“ (7):

Angst in Geborgenheit, Zorn in Trost und Kummer in Freude. Das aber kann ich nicht selbst machen, das überlasse ich Gott. Ihm schmeiße ich all das, was mich bewegt, vor die Füße. Seine Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, kann meine Trauer in Freude verwandeln. Und das ist nicht allein bei Kriegskindern und -enkeln so.

 

Der zweite Weltkrieg war ein Erdbeben. Seine Nachbeben erschüttern Menschen bis in unsere Tage. 80 Jahre lang wirkte er nach - bis ins zweite und dritte Glied. Das wird mit dem europäischen Krieg, der zurzeit tobt, nicht anders sein. Die Stichworte, hinter denen sich die Traumata verbergen, sind die gleichen: ausgebombt, gefallen, vermisst, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung.

 

Wieder haben die Väter saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne davon stumpf. Auch die heutigen Kriegskinder werden auslöffeln müssen, was andere ihnen eingebrockt haben. Doch so soll es nicht bleiben.

 

Dies alles bedenkend, glaube ich: Ganz gleich wo ich politisch stehe, ob ich für mehr oder weniger Waffen plädiere. Das Ziel kann nur sein: das heutige Gemetzel zu beenden.

 

„Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen…“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

 

Mit freundlicher Genehmigung des ukrainischen Künstlers –

E-Mail: shum.rave@gmail.com

 

https://soundcloud.com/becadi/shumcast-21-made-in-ukraine-ukraine-at-war?utm_source=clipboard&utm_medium=text&utm_campaign=social_sharing

 

Literaturangaben:
 

  1. Sabine Bode, Kriegsenkel, Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 2009, 29
  2. Sabine Bode, Die vergessene Generation, Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, München 2005, 102
  3. a.a.O., 106
  4. Sabine Bode, Kriegsenkel, 21
  5. a.a.O., 23
  6. a.a.O., 223
  7. Sabine Bäuerle, „Die Väter haben saure Trauben gegessen“, Frankfurt 2005, unveröffentlichtes Manuskript
10.06.2022
Pfarrer i.R. Peter Oldenbruch