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"Das lerne ich vom barmherzigen Samariter: Die Not sehen. Mich anrühren lassen. Tun, was ich spontan tun kann. Alles Weitere in die Hände von Profis geben. Nachschauen, ob das klappt. Wenn es mehr braucht, nachjustieren." Jörg Machel
Der barmherzige Samariter
Ein Gleichnis im Praxistest
31.08.2025 08:35

Er ist der Ersthelfer aller Helfenden: der barmherzige Samariter in der Bibel. Er zeigt sechs konkrete Schritte, wie Helfen geht.

 
Sendetext nachlesen:

Der barmherzige Samariter muss herhalten, um an das Gute im Menschen zu appellieren. So sollten wir sein, aber so sind wir nicht. Eine Geschichte der Überforderung, so wird sie von vielen wahrgenommen. Andreas Rath hat mit an Demenz erkrankten Menschen gearbeitet. Er hat Teams geleitet. Und er hat Erfahrung im Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen und ihren Angehörigen. Mit ihm möchte ich die biblische Erzählung vom barmherzigen Samariter auf ihre Relevanz für die praktisch diakonische Arbeit durchbuchstabieren. Die Geschichte vom Samariter hat einen Vorspann: Ein frommer Mann fragt Jesus nach dem richtigen Leben. Woran soll er sich orientieren, um das ewige Leben zu ererben? (Lukas 10,25) Woran orientieren Sie sich, Herr Rath, bei Ihrer Arbeit für Menschen, die Hilfe brauchen?

Andreas Rath:
Also der Antrieb ist für mich erst einmal humanistisch. Ich bin humanistisch erzogen und für mich sind die religiösen Themen Bestandteil des Humanismus. Für mich ist der Träger nicht so wichtig, sondern die Menschen, die da arbeiten. Und es heißt ja immer, der Fisch fängt am Kopf an zu stinken. Und ich denke, wenn es ein gutes Haus ist, gibt es einen guten Kopf. Aber wir denken einmal an den Körper dieses Fisches, wie viele Leute daran hängen und das hat nicht nur mit dem Kopf zu tun, sondern mit allen, die dort arbeiten, wichtig ist, dass die, die dort arbeiten, diese Grundhaltung haben, die wir brauchen, um überhaupt dies leisten zu können, was der Samariter von uns möchte.

Im Vorspann zur Geschichte vom Samariter fragt Jesus den Mann zurück: "Was liest du denn in der Heiligen Schrift, woran du dich orientieren sollst?" Der Mann antwortet mit dem Bibelzitat: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst." (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).

Jesus bestärkt ihn, sich an diese Maxime zu halten: "Tu das, und du wirst leben." Aber das ist dem Frager nicht konkret genug. Er fragt weiter: "Wer ist denn mein Nächster?" Und darauf antwortet Jesus mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter:

"Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. " In der Geschichte gehen nun zwei fromme Leute an dem verletzten Mann vorüber und lassen ihn liegen. Für die Zuhörer sind das keine guten Menschen. Wie kann man nur über dieses Elend hinwegsehen?

Ich fühle mich immer ein wenig ertappt an dieser Stelle. Ich bin oft in meinem Kiez Berlin-Kreuzberg an Elendsgestalten vorbeigegangen. Ich kenne auch die Erfahrung: Ich biete Hilfe an, aber der andere weist sie schroff zurück. Ich frage Andreas Rath, der mit hilfsbedürftigen Menschen arbeitet: Welche Gründe sehen Sie, wenn Hilfe nicht stattfindet? Schludrigkeit, Angst, Überforderung?

Andreas Rath:
Ich denke, wenn Hilfe nicht stattfindet, dann ist es eine Überforderung von uns, die da arbeiten. Wir wollen helfen, das ist doch unser grundsätzliches Ziel, wofür wir da sind, wofür wir ausgebildet wurden, wo unser Herz schlägt, wo unser Verstand ist. Aber wie sollen sie denn alleine 37 Leute versorgen? Das ist doch der Grund der Überforderung, dass wir an Leuten vorbeigehen, denen wir eigentlich helfen wollen, weil wir einfach nicht in der Lage sind zeitlich, materiell, dies zu tun. Und da kommen wir dann an die große Stelle, wo wir einfach sagen: Schande für unsere Gesellschaft, wie wir damit umgehen. Ich setze den Samariter ja als gesellschaftlichen Anspruch an, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass wir samaritermäßig tätig sein können. Und dieses Vorbeigehen an Problemen, die wir sehen, die sind geschuldet dieser Überlastung oft. Die sind geschuldet der Überforderung. Die sind geschuldet, dass nicht genug Menschen da sind, das, was zu tun ist, auch zu machen. Da müssen wir einfach dran arbeiten, weil ich einfach immer meine: Ich bin der nächste, der gepflegt werden möchte.

Jesus erzählt weiter: Nach zwei Leuten, von denen man Hilfe erwartet hätte, die aber an dem Verletzten am Straßenrand vorbeigehen, kommt ein Samariter. Auf den haben die frommen Leute eigentlich herabgeschaut.  Ausgerechnet der hilft. "Es jammerte ihn", so steht es in der Bibel. Er sieht die Not, ist empfindsam für das Leid dieses Menschen, der unter die Räuber gefallen ist. Ich frage Andreas Rath: Erinnern Sie sich an solche überraschenden, weil unerwarteten Begegnungen aus Ihrer diakonischen Arbeit?

Andreas Rath:
Ich habe eine Tagesstätte geleitet, eine diakonische, und wir waren eine der wenigen, die jede Anfrage von Behinderteneinrichtungen oder sozialen Einrichtungen für Praktika als eine Bereicherung gesehen haben. Und dann kam Emma. Emma kommt ja aus einer Behinderteneinrichtung. Und Emma hat viele Probleme in der Sprache, in der Schrift, im Gangbild. Sicher eine Unterversorgung bei der Geburt. Emma ist aber eine so herzliche Frau, unser Sonnenschein ist sie geworden. Sie hat das Frühstück gemacht, und es sollte ein wenig schneller gehen und ich gehe dahin und wollte mitmachen – aber Emma hat mir so eine Kelle gegeben, dass ich dann verschwunden bin, weil ich dann erkannt hatte: Misch dich da nicht ein! Sie braucht ihre Zeit. Sie macht das ausgezeichnet. Und das zu erkennen und dann jemand so anzunehmen, der uns hilft in einer Form, die wir ihr auch bieten. Und das ist ein Beispiel dafür. Wo man eigentlich keine großen Erwartungen hat und man denkt: Naja… Und dann kommt der Knaller, und man ist zufrieden und glücklich und alle haben etwas davon.

Jesus erzählt: Der Samariter wird zum Retter in der Not. Er versorgt den Verletzten, säubert die Wunden, legt einen Verband an und bringt ihn in eine Herberge. Er sieht nicht nur. Er hat nicht nur Mitleid. Er handelt. Wie verhält es sich mit diesem Zusammenspiel von Empathie und Handanlegen im diakonischen Alltag? Funktioniert das immer so gut wie in dieser Geschichte?

Andreas Rath:
Wenn ich als Pflegedienstleiter in eine Einrichtung komme, dann habe ich in mein Büro zu gehen, die Tasche abzustellen und dann durch das Haus zu gehen und zu gucken: Wer ist um sechs Uhr zur Frühschicht nicht erschienen. Wo kann ich Hand anlegen, zwei Leute mit Grundpflege betreuen, so dass ich meine Leute unterstütze. Aber ich kann auch im Kostüm oder im Anzug schön in mein Büro gehen. Und meine Arbeit machen, und das ist der Unterschied zwischen Empathie und Hand anlegen. Und wer das nicht macht, der hat schon ein bisschen verloren. Aber der eigentliche Knackpunkt ist doch die wirkliche Tätigkeit am Menschen. Und wenn ich eine Leitungsfunktion habe und früh hereinkomme und sehe, es ist Not, dann ist es doch meine erste Aufgabe, von meinen 8 Stunden wenigstens 2 Stunden in die Pflege zu gehen und zu sagen: Freunde, ich bin für euch da. Wir sind alle zusammen da und erfüllen das, was wir eigentlich erfüllen müssen: den Hintern des Menschen zu waschen und ihn nicht darin liegen zu lassen, weil wir das einfach nicht hinkriegen.

In der Bibel folgt nun eine Erweiterung der Geschichte, die mich überrascht. Eigentlich hätte hier doch Schluss sein können. Dem Gewaltopfer wurde schließlich geholfen. Jesus aber erzählt weiter: "Am nächsten Tag zog der Samariter zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme."

Der Samariter bleibt in der Verantwortung, ohne selbst in der Situation zu verharren. Er delegiert die weitere Pflege an den Wirt. Doch das ist ja noch nicht alles. Wenn man genau liest, dann delegiert der Samariter die Versorgung des Kranken nicht nur. Er kündigt auch an, zurückzukommen und zu hören, ob alles gut geklappt hat. Ich frage Andreas Rath: Arbeit zu teilen und die Qualität zu gewährleisten, funktioniert das in der Diakonie?

Andreas Rath:
Qualitätskontrolle ist ja so ein hohes Wort - Qualitätskontrolle. Ich habe mal meine Mitarbeiter früher befragt, und die haben niemals das Wort Standard oder Expertenstandard in den Mund genommen. Die haben gesagt: Wenn ich zu meinem Bewohner gehe und das tue, was ich tun muss, dann singe ich, dann tanze ich, dann lache ich, dann erzähle ich und mache dabei meine Arbeit. Und das ist dann Qualität. Wenn wir dann nach 20 Minuten rausgehen, dann haben wir das toll gemacht und alle sind zufrieden. Das ist aber nicht die Qualitätskontrolle, die unsere Gesellschaft will. Unsere Gesellschaft schickt uns Papierberge. Unsere Gesellschaft macht Expertenstandards. Wir machen Standards in den Einrichtungen. Dann kommt der medizinische Dienst und kontrolliert uns mit unsäglichen Fragen und den eigentlichen Kern, unserer Arbeit, den erreichen sie nicht.  Ein Beispiel: Da steht: "Wie ist das Essen?" Warum essen die Mitarbeiter des medizinischen Dienstes an diesem Tag nicht das Mittagessen und kontrollieren selbst, wie das Mittagessen ist? Die müssen das tun. Die wollen immer, dass der Speiseplan mit Arial 14 geschrieben ist, alle das gut lesen können. Das ist doch nicht die Frage. Nein, wir haben unser Brot mit. Wir gehen jetzt in die Pause, gehen essen. Das sind so Sachen, dass sie sind weit weg von der eigentlichen unteren Ebene, da wo Qualität geleistet wird und Qualität erbracht wird.

In der Geschichte von Jesus beauftragt der Samariter den Wirt mit der weiteren Pflege des Verletzten. Er zieht weiter, kündigt aber an: Er kommt wieder. Diese Ankündigung verbindet er erstaunlicherweise mit einem Versprechen: Wenn die Pflege teurer wird, als vorauszusehen war, dann wird er nachzahlen. Alle Achtung, dass Jesus mit seinem Gleichnis so ins Detail geht. Auch das hat mich überrascht. Pflege kostet Geld, und aufwändige Pflege kostet viel Geld. Orientiert sich der Arbeitgeber Diakonie an diesen klugen Worten Jesu?

Andreas Rath:
Die finanzielle Frage der Pflege, das wissen wir alle, ist ein gesellschaftliches Problem, arbeiten alle dran. Wir zahlen mehr Kassenbeiträge, wir werden mehr Pflegebeiträge bezahlen. Das ist erst mal die Grundlage, damit das System überhaupt funktioniert. Und man muss erst einmal sagen: Das ist überhaupt ein System. Viele Länder haben überhaupt kein System. Wir meckern immer, aber wir müssen ja erst einmal bei der Stange bleiben und müssen sagen, wir haben etwas. Freunde, ihr seid die nächsten, die gepflegt werden. Ihr seid die nächsten, die in dieses System aufgenommen werden in unserer demographisch veralteten Gesellschaft. Und wenn sich jetzt nicht etwas tut, solange wir noch können: Auf dem Ast, auf dem wir sitzen, den fangen wir an abzusägen, dann wird es hart. Jeder muss sich engagieren, dass die finanziellen Mittel da sind vor allen Dingen auch in Verantwortung gegenüber denen, die da arbeiten, dass die nötigen Mittel in Form von Lohn und Gehalt da sind, in Form von allem, was sie brauchen, um eine gute Pflege leisten zu können, überhaupt da ist. Und gerade in dieser Zeit, da müssen wir laut werden und unsere Pflege verteidigen und unsere Alten verteidigen und uns verteidigen, die wir da arbeiten.

In dem Gleichnis, das Jesus erzählt, macht der barmherzige Samariter sechs Schritte, sehr konkret, sehr lebensnah und eben nicht moralisierend.

Im Gespräch mit Menschen, die in der Diakonie für andere da sind, habe ich immer wieder erlebt, wie praxistauglich der Samariter in dem Gleichnis handelt. Ich sehe bei ihm diese konkreten sechs Schritte:

• Mitfühlen – also das Herz sprechen lassen.

• Analysieren – die Not sehen.

• Handeln – es nicht bei Hinschauen und Mitleid belassen, sondern etwas tun.

• Delegieren – der Samariter beauftragt den Wirt, den Verletzten weiter zu pflegen.

• Vergewissern – er kommt wieder und will sehen, wie es ihm geht.

• Und: Nachjustieren – wenn es mehr Geld braucht, wird er mehr zahlen.

Sechs Schritte für ein verantwortliches diakonisches Handeln in der Nachfolge Jesu.
 

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Lieder der Sendung: 
1. bis 4. Ludovico Einaudi, CD Le Onde, Pianoforte Ludovico Einaudi