"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", steht in der Bibel. Was, wenn ich tatsächlich mal vor mir selbst stehe? Ein Gedankenexperiment.
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Conny schnallt sich an. Ihr Flugzeug wird bald landen. Die Maschine senkt die Nase und geht runter. Die Reifen setzen auf, das Flugzeug rollt aus und kommt zum Stillstand. Alles ganz normal.
Außer, dass genau dieses Flugzeug samt Passagieren schon einmal gelandet ist. Vor drei Monaten schnappte Conny schon mal ihr Handgepäck und drängte sich durch den schmalen Gang. Sie und alle anderen Passagiere gibt es bereits da draußen. Als sie jetzt das Flugzeug verlässt, darf sie nicht nach Hause gehen. Dort ist ja schon jemand, sozusagen Conny I - voll identisch. Alle Passagiere des Fluges werden festgehalten, verstehen nicht, was ihnen widerfährt. Bis sie schließlich sich selbst gegenüberstehen.
Dieses Szenario hat sich der französische Autor Herve le Tellier in seinem Roman "Die Anomalie" ausgedacht. Er beleuchtet die Folgen dieser "Anomalie" - für die Gesellschaft, die Religion, den Staat und für die einzelnen Menschen.
Als ich das Buch gelesen habe, hat mich die Frage beschäftigt: Wie wäre es, mir selbst zu begegnen? Ich stehe mir gegenüber, aber mein Gesicht ist nicht spiegelverkehrt. Fasziniert betrachte ich mich, mal krittelnd, mal wohlwollend. Der Klang meiner Stimme wäre zunächst irritierend, wenn ich mit mir spreche. Als mein anderes Ich lacht, muss ich mitlachen. Doch dann denke ich an das, was ich nicht mit meiner Doppelgängerin teilen will: meine Kinder, meine Freunde. Wie geht es weiter nach so einer Begegnung?
Als Christin möchte ich anderen so begegnen, wie es mir das biblische Gebot der Nächstenliebe ans Herz legt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Das hebräische Original wörtlich übersetzt bedeutet: "Liebe deinen Nächsten, er ist wie du."
Er und sie ist wie du. So handeln, als würde ich in meinem Nächsten auch mir selbst begegnen. Dazu braucht es vor allem eins: Einfühlungsvermögen. Im Roman begegnen die Figuren ihrem zweiten Ich so, wie sie auch sonst dem Leben begegnen: Die einen mit Misstrauen, die anderen mit Geltungsdrang, die dritten mit Offenheit und Wohlwollen.
Der Roman zeigt beides: Wie viel Leid und Unglück entstehen, wo Menschen sich voreinander verschließen. Und wie sich neue Wege auftun, wo es gelingt, einander zu begegnen mit der Erkenntnis: Du bist wie ich. Du empfindest Freude und Angst, Liebe und Ablehnung, Gewissheit und Zweifel.
Mir gefällt das Bild vom gemeinsamen Flug, bei dem wir einander und an dessen Ende wir uns selbst begegnen werden. Hoffentlich mit Liebe für mich selbst genauso wie für meine Nächsten, damit sich auch dann noch neue Wege auftun.
Es gilt das gesprochene Wort.
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