Ein Liebespaar, ein Koffer und eine Botschaft auf dem Asphalt wie von Geisterhand. Ein raffinierter Widerstand gegen die Nazis und eine biblische Warnung an Tyrannen.
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Ein Liebespaar spaziert durch die nächtlichen Straßen von Frankfurt am Main. Es sieht so aus, als hätten die beiden sich länger nicht gesehen. Er trägt einen Koffer und ist wohl gerade von einer Reise zurückgekommen. Die beiden bleiben immer wieder stehen, küssen, knutschen. Er stellt dabei den Koffer auf den Boden.
Der Koffer ist präpariert. Er hat an der Unterseite Buchstaben, die aus Schaumstoff ausgeschnitten sind. Der Schaumstoff ist mit einer Silbernitratlösung durchtränkt. Die hat den Effekt: Wenn am Morgen das Tageslicht auf den Asphalt fällt, dann verfärbt sich der Abdruck und eine Schrift erscheint auf dem Boden. Auf einmal steht da: "Weg mit Hitler!" Die Silbernitratlösung hat noch eine Eigenschaft: Sie lässt sich nur schwer entfernen. Es steht also eine ganze Weile an jeder Stelle, an der das Liebespaar den Koffer abgestellt hat: "Weg mit Hitler!"
Das war 1933, nicht lange, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren. Das Liebespaar hieß Anna Beyer und Ludwig Gehm. Beide gehörten zum "Internationalen Sozialistischen Kampfbund". Sie haben kleine Zeichen des Widerstands gegen Hitler gesetzt. Kleine Zeichen wie die Aktion mit dem präparierten Koffer.
Was bringt das? Die Nazis hat es nicht aufgehalten. Trotzdem beeindruckt mich die Aktion mit dem Koffer. Anna Beyer und Ludwig Gehm haben gezeigt: Es gibt noch Menschen in der Stadt, die der Gewaltherrschaft nicht zujubeln. Ich bewundere den Einfallsreichtum und die Raffinesse der beiden. Sie leisten nicht offen Widerstand. Sie haben eine versteckte Methode gefunden. "Weg mit Hitler!" Der Schriftzug auf dem Asphalt ist ein stilles lautes Zeichen.
Mich erinnert das an die Erzählung in der Bibel vom Menetekel, einer geisterhaften Schrift an der Wand. In der Erzählung geht es ebenfalls um einen Gewaltherrscher, König Belsazar. Der feiert ein Saufgelage mit seinen Mächtigen. Er trinkt aus den Gefäßen, die er aus dem Tempel in Jerusalem geraubt hat.
Auf einmal erscheint eine Hand ohne Körper und schreibt an die getünchte Wand eine Schrift, die niemand lesen kann. Der König wird bleich vor Schreck. Er lässt alle Wahrsager kommen, um die Schrift zu deuten. Schließlich entschlüsselt der Prophet Daniel dem König, was an der Wand steht: Mene tekel. "Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich mit der Waage gewogen und zu leicht befunden." (Daniel 5,26)
"Weg mit Hitler!" Der Satz wurde erst schreckliche zwölf Jahre später für Hitler zum Menetekel. Aber man muss Zeichen setzen gegen Willkür. Und auch stille Zeichen können laut sein. Anna Beyer und Ludwig Gehm haben getan, was sie konnten. Und sie haben beide Hitler und seine Schreckensherrschaft überlebt.
Es gilt das gesprochene Wort.
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