Bennick trifft Bartning

Die Auferstehungskirche in Pforzheim wurde 1948 als erste Notkirche Deutschlands eingeweiht

Gemeinfrei via Vio la

Bennick trifft Bartning
Der Singer-Songwriter über seinen Urgroßvater, Architekt der Notkirchen
21.04.2024 - 08:35
22.02.2024
Pfarrerin Anne Kampf

von Pfarrerin Anne Kampf

Über die Sendung:

Otto Bartnings Notkirchen haben das Gesicht vieler Stadtviertel im Nachkriegsdeutschland geprägt. „Notkirchen“ meint mehr als nur Behelf. Es drückt aus, was in Krisenzeiten nottut.

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Joe Bennick:
„Er hatte ja Zeit seines Lebens immer so ein bisschen gehadert, ob er Schriftsteller werden sollte, ob er Architekt werden sollte, Lehrer oder Pfarrer. Und ich glaube, er konnte sich nie wirklich ganz entscheiden.“

Der Singer-Songwriter Joe Bennick kennt seinen Urgroßvater Otto Bartning mittlerweile ziemlich gut, obwohl er ihn nicht persönlich kennengelernt hat. Der Architekt lebte von 1883 bis 1959, ein nachdenklicher, bescheidener, begabter und humorvoller Mensch. Otto Bartning hat das Bild zahlreicher Stadtviertel im Deutschland der Nachkriegsjahre geprägt durch seine sogenannten Notkirchen. Wie in einem Baukastensystem konnte man diese Kirchen schnell und günstig errichten. Es brauchte damals Kirchen, denn viele waren im Krieg zerstört worden und die Zahl der Flüchtlinge aus Ostpreußen, Hinterpommern oder Schlesien war groß.

Bartning-Notkirchen gibt es heute zum Beispiel in Pforzheim und Rostock, in Wismar und Essen, in Leipzig und in Frankfurt am Main, wo ich wohne. Joe Bennick war ganz berührt, als er zum ersten Mal die Frankfurter Bethanienkirche, an der ich Pastorin bin, von innen sah – das Werk seines Urgroßvaters. Über ihn hat er viel gelesen, und in der Familie werden liebevolle Anekdoten erzählt. Zum Beispiel, was der kleine Otto als Kind von seinem Großvater lernte.

Joe Bennick:
 „Der hat ihn immer mitgenommen und sie haben sich Gottesdienste angehört. Und er hat dann relativ schnell rausgefunden, was eine gute Predigt war und was nicht. Denn wenn’s eine gute Predigt war, sind sie geblieben, und bei schlechten Predigten ist der Großvater irgendwann einfach aufgestanden, hat den kleinen Bub an die Hand genommen und ist nach Hause gegangen.“

So kam Otto Bartning früh mit Theologie in Berührung und hielt sich oft in Kirchen auf. Nach dem Abitur begann er, Architektur zu studieren. Seit 1905 war Bartning selbständiger Architekt, ohne sein Studium je beendet zu haben. Später schrieb er über sich selbst:

Otto Bartning:
„Ich bin vielleicht gar kein Architekt, sofern mir der Mensch und die Aufgabe wichtiger ist als der Bau.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Otto Bartning Leiter der Bauabteilung des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen. Er bekam den Auftrag, im zerstörten Deutschland 40 Notkirchen zu bauen – finanziert aus Spenden. Bartning erzählt, wie es ihm ging, als er von dieser Aufgabe erfahren hat:

Otto Bartning: Darum bauen wir Notkirchen
„Diejenigen, die mir die Nachricht meldeten, erwarteten wohl, ich würde laut aufjubeln. Und ich dachte eigentlich selbst, ich müsste es tun. Aber ich verstummte, ging auf die Straße und wanderte stundenlang durch die Trümmerfelder, wie ein Besessener, wie ein Verurteilter. (...) 40 Notkirchen. Gab es denn 40 Notgemeinden? Oh ja, 40, 400, 4 000 Gemeinden in Not. (…) Die Notgemeinde braucht keine neuen Dogmen und Regeln, aber sie soll ihren Pfarrer bedrängen, dass jeder Gottesdienst ein echter Notgottesdienst wird. Ihr Jungen, lasst ihm nicht Ruhe mit euren wahren Nöten und Fragen (...) Eure Fragen sind unsere Fragen. Sie sollen in der Gemeinde, im kleinen Kreise, unter vier Augen beantwortet - oder, was oft viel mehr wert ist, unbeantwortet gemeinsam ausgetragen (...) werden. Das ist Notgemeinde. (...) Heute bin ich still geworden und ruhig. (...) Sehet: In diesen 40, in diesen zehn, in dieser einen neuen Kirche geht es um neue, freie und aufrichtige Menschen. Darum bauen wir Notkirchen.“

Die Notkirchen entstanden in zerbombten Städten oder in Siedlungen, die sich mit Vertriebenen und Kriegsflüchtlingen füllten. Die äußere Not war groß, das Geld reichte kaum, Neubauten durften nicht viel kosten. Deswegen erfand Bartning die Serienbau-Kirche:

Fertigteile aus Holz wurden an die Baustellen geliefert. Die Gemeindemitglieder selbst haben sie ausgemauert. Von 43 Notkirchen stehen heute noch 41. Es sind einfache, rechteckige Saalkirchen ohne Schnörkel. In manchen erkennt man alte Trümmersteine an den Wänden. Joe Bennick über die Idee seines Urgroßvaters:

Joe Bennick: Was bedeutet Not neu
„Er meinte auf jeden Fall nicht, dass diese Kirchen Notbehelfe sind, sondern es war ein Raum bei innerer und äußerer Not. Also es sollte in den Gemeinden eben einen Raum geben, um innere Einkehr zu haben, sowohl an Sonntagen wie auch an Werktagen eine Zuflucht zu geben.“

Joe Bennick ist Singer-Songwriter. In dem Lied „Truly My Best“ stellt er sich den Architekten vor, wie er in einer seiner Notkirchen sitzt und sein eigenes Werk auf sich wirken lässt. Mit einer Mischung aus Stolz und Demut lässt der imaginäre Otto Bartning sich selbst verzaubern von dem Segen und der Ruhe. Er atmet tief durch und sagt sich: „Ich hab wirklich mein Bestes gegeben.“ 

 „In this cathedral space I see fault / As if walls fall apart and vault / The clutter never rests beneath / take a deep breath //
(…) And then you pause / It's a haven, a sanctuary of sorts / I did truly my best.“

Eine von Bartnings Notkirchen ist die evangelische Bethanienkirche in Frankfurt am Main. Wer sie betritt, fühlt sich gleich geborgen wie in einer Berghütte. Erika Schneider – heute 90 Jahre alt – ist gern in ihrer Kirche.  

Erika Schneider:
„Das viele Holz is so warm. Es is schön da drin.“

Otto Bartning liebte Holz als Baustoff. Es war verfügbar, nicht zu teuer, leicht und transportabel. In Frankfurt am Main, so erzählen die Älteren, wurden die Holzteile damals mit der Bahn angeliefert und mit Seilwinden aufgerichtet.

Die Bethanienkirche ist eine besondere unter den Bartning‘schen Notkirchen: Als einzige hat sie ein Spitztonnendach, das an eine Kathedrale erinnert.

Am Ostermontag 1949 wurde die Kirche eingeweiht. Der damalige Vorsitzende des Kirchenvorstandes, Karl Grießmann, hatte sich hartnäckig für den Bau eingesetzt. Sein Sohn Eberhard Grießmann erinnerte sich – knapp ein Jahr vor seinem Tod – an die Anfänge des Gemeindelebens:

Eberhard Grießmann:
„Die erste Konfirmation, das war ne große Sache! Die Kirche war wirklich den Gemeindemitgliedern ihre Kirche. Also das war gravierend, das Gefühl, was da vermittelt wurde.

Die erste Konfirmation in der neuen Kirche hat Erika Schneider knapp verpasst. Noch vor dem Bau der Bethanienkirche war sie im Nachbarort konfirmiert worden. Aber sie erinnert sich gut an ihre Hochzeit 1956 in der Bethanienkirche, die erst innen fertig war.

Erika Schneider:
 „War ja alles noch annerst wie heut. Die Kirch war noch net verputzt, ich mein, die Glocke hätt auch noch net geläutet. Mir hatte kein Glockegeläut.“

 

Der Glockenturm wurde erst 1957 gebaut. Heute am 21. April feiert die Gemeinde das 75-jährige Bestehen der Bethanienkirche. Dazu macht sich auch Erika Schneider auf den Weg zu der Kirche, in der sie nicht nur Hochzeit, sondern auch die Taufen und Konfirmationen ihrer Kinder und Enkel gefeiert hat. Die Kirche gehört zu ihrem Leben. Sie hat darin Heimat gefunden. Ganz im Sinne von Otto Bartning. Sein Urenkel Joe Bennick singt: Dieser Raum ist wie ein Hafen.

 „This thrice blessed room around me complies / a stern mission to tempt and to reside / gaze around this trembling space / take a deep breath //
And then you pause / It's a haven, a sanctuary of sorts / I did truly my best.“

Ein gesegneter Raum, ein Zufluchtsort, eine Art Heiligtum, in dem man bleiben möchte. Die Notkirchen sollten den von Krieg, Schuld und Flucht belasteten Menschen Geborgenheit bieten – wie ein schützendes Zelt in der Wüste. Davon sprach Otto Bartning 1948 bei der Einweihung der allerersten Notkirche, der Auferstehungskirche in Pforzheim.

Otto Bartning: Zelt in der Wüste 1
"Es ist wohl keiner unter uns, der nicht Habe und Hoffnungen verloren und dem nicht vorzeitig Opfer liebster Menschen abgefordert worden wäre. Und so wandeln wir nicht nur immer wieder stumm durch die Wüstenei dieser zerstörten Stadt, sondern jeder von uns ist in der eigenen Seele in Wüste und Verlassenheit geraten. (...) Wir sind nun Kenner der Wüste geworden, der äußeren wie der inneren. (...) Wo aber zwei oder drei in der Wüste sich treffen und am besonderen Blick der Augen sich erkennen, da bleiben sie beisammen. Und wenn ihrer 30 oder 40 oder 400 werden, so werden sie eine Gemeinschaft bilden des Schweigens, des zögernden Redens und des plötzlichen Betens und Singens. Solche Gemeinschaft in der Wüste aber wird einen Ring von Steinen legen und wird ein Zelt bauen (…).“

Das Bild vom Zelt in der Wüste bezieht Otto Bartning auf die Architektur der Pforzheimer Auferstehungskirche:

Otto Bartning: Zelt in der Wüste 2
„Sehet, diese vom Boden auf zu einander geneigte und zum Rund sich schließende Konstruktion, sie ist ein solches Zelt in der Wüste. Wir wissen aber, dass gerade in der Wüstenei der Stadt, dass in der Not und Verwirrung der Seelen die klare Ordnung, die Einfalt und unbedingte Ehrlichkeit dieses Zeltes von tiefster Bedeutung ist. (...) Wir stehen dafür mit Leib und Seele – nicht trotz der Wüste, sondern kraft der Wüste, in der dies Zelt ein Halt und Trost der Seele sei.“

Um Halt und Trost für die Seele zu bieten, muss eine Kirche nicht besonders ausgeschmückt sein. So sah es jedenfalls Otto Bartning, der 1919 in seinem Buch „Vom neuen Kirchbau“ die einfache Gestalt seiner Kirchen theologisch begründete.

Er berief sich auf Martin Luther.

Otto Bartning: Sakralbau oder Profanbau

"Wenn (...) die Protestanten der ersten Reformationszeit entweder vorhandene Kirchen benützten oder selbst Kirchen bauten, so handelten sie dabei lediglich aus praktischer Not: Sie suchten Schutz vor Regen und Kälte und unberufener Störung und bildeten den Raum so aus oder um, dass er einer möglichst großen Zahl von Gemeindemitgliedern möglichst ungehindert das Hören der Predigt und die Feier des Abendmahls erlaubte. (...) Der kirchliche Bau war nicht mehr der religiös geeignetste, d.h. also sakrale Ort des Gottesdienstes, sondern der praktisch geeignetste Raum."

Auch wenn Bartning praktisch dachte, so hatte er doch Sinn für die besondere Wirkung eines Kirchbaus:

Otto Bartning: Trost und Stärkung
„Wer eintritt, wird nicht ein leeres Gehäuse, sondern eine stille Stätte der Selbstbesinnung und des Untergehens, des Trostes und der Stärkung des Guten in seiner Seele, kurz des Gebetes finden.“

Sakral ist nicht das Gebäude, sondern das, was in den Kirchen geschieht: Menschen hören die Predigt, singen gemeinsam und feiern das Abendmahl. Der Raum soll die liturgischen Handlungen unterstützen, die Gemeinschaft beherbergen und in diesem Sinne „Gestalt der Seele“ sein.

Joe Bennick tritt als Singer-Songwriter immer wieder in den Notkirchen seines Urgroßvaters auf. Für ihn jedes Mal ein besonderes Erlebnis. Sein Konzertprogramm heißt „Bennick trifft Bartning – Raum trifft Musik“. 

Joe Bennick:
„Die Atmosphären in den Kirchen ist natürlich einmalig, auch dadurch, dass ich mich jetzt lange, lange damit beschäftigt habe und viel darüber gelesen habe, einfach weiß, was in diesen Kirchen alles steckt, auch wie viel Persönliches da drin steckt, nicht nur von Otto Bartning, sondern auch von den Leuten, die dann im Konzert sitzen. Die meisten von den Leuten haben ja irgendeine Verbundenheit mit dem Raum, und allein das macht das schon extrem spannend, weil dann eine sehr schöne, sehr intime Atmosphäre entsteht.“

"It's a space of peace and calm / A place to find charm / My minds at ease / and I breathe // And then you pause / It's a haven, a sanctuary of sorts / I did truly my best / And then you pause / It's a haven, a sanctuary of sorts / I did truly my best."

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

   1.    Joe Bennick, Titel: Truly My Best (instrumental)
   2.    Joe Bennick, Titel: Truly My Best
   3.    Joe Bennick, Titel: Truly My Best
   4.    Joe Bennick, Titel: Truly My Best

Literatur dieser Sendung:

   1.    aus: Beyer, Osker (Hg.): Otto Bartning in kurzen Worten. Schriften und Reden des Architekten, Hamburg 1954, 32, zitiert
          nach: Arbeitsstelle Gottesdienst: Ich habe mein Leben lang Kirchen gebaut. Zur Erinnerung an Otto Bartning (1883-1959), 
          01/2009, 23. Jahrgang, 5.
   2.    Otto Bartning: Darum bauen wir Notkirchen, aus: Kohnert, Frauke (Hg.): 50 Jahre Otto-Bartning-Kirchenprogramm -
          Dokumentation der 48 Gemeindezentren und Diaspora-Kapellen, 2. Auflage 2003, zitiert nach
          https://www.cyriakkapelle.de/cyriakkapelle/notkirchen, zuletzt abgerufen am 8.3.2024
   3.    Otto Bartning: Was ist eine Notkirche?, Ansprache des Architekten bei der Einweihung der ersten Notkirche, Pforzheim 1948
   4.    Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau, herausgegeben von Peter Schütz, Köln 2019, S. 41-42
   5.    Otto Bartning: Vom neuen Kirchbau, herausgegeben von Peter Schütz, Köln 2019, S. 98

22.02.2024
Pfarrerin Anne Kampf