Im höheren Chor singen

Morgenandacht
Im höheren Chor singen
07.04.2016 - 06:35
27.12.2015
Evamaria Bohle

Menschen, die im höheren Chor singen, kennt jeder: David Bowie zum Beispiel. Oder Helmut Schmidt. Oder den kleinen Aylan, der im vergangenen Herbst im Mittelmeer ertrunken ist. Auch mein Vater singt im höheren Chor.

 

„Im höheren Chor singen“ ist in meiner Sippe ein Ausdruck aus früherer Generation für „gestorben sein“. Ich glaube, es ist ein Zitat aus einem Kirchenlied. Man könnte es sicher herausfinden und den Zusammenhang wiederherstellen. Aber darum geht es mir nicht: Ich finde es einfach bemerkenswert, dass sich diese seltsam-musikalische Formulierung vererbt hat. „Im höheren Chor singen“. Sie hat ein Stückchen der Hoffnung im Gepäck, von der die Altvorderen lebten. Ein Mensch, der stirbt, geht nicht einfach verloren, glaubten unsere Vorfahren: Das Grab, der Zerfall des Körpers ist das eine. Aber das, was den Menschen zum Menschen macht, zerfällt nicht im Grab. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist unzerstörbar. Es lebt ewig, behaupten nicht nur die Christen.

 

Doch was fängt man als aufgeklärter Mensch damit an, mit ewigem Leben? Ich finde es steckt eine große Kühnheit in dieser Rede vom ewigen Leben. Auch Zärtlichkeit. Und sogar Witz. Es hat etwas von einem Wagnis, sein Denken und Empfinden in solche Worte zu kleiden. Und es bleibt nicht ohne Folgen für das Handeln: Es wird möglicherweise kühner, zärtlicher und witziger.

 

Kühn ist die Rede von einem ewigen Leben, denn sie bringt den Rhythmus der Realität des Todes einfach so aus dem Takt. Sie ist der Stolperschritt im Marsch des angeblich Unausweichlichen. Wir können dem Tod nicht entkommen – aber wir können seine Macht beschneiden, in dem wir ihn anders bewerten. Und schon das verändert das Leben. Auch Revolutionen beginnen damit, dass Menschen es wagen, scheinbare Unabänderlichkeiten neu zu bewerten.

 

Zärtlich ist er, dieser Glaube an ein Leben nach dem Tod – denn er geht behutsam mit dem Verlust um, den wir erleiden, wenn jemand stirbt. Und mit dem Verlorenen. Dieser Glaube weigert sich, die geliebten Gestorbenen im Grab zu vergessen, ihnen eine Zukunft zu verweigern. Der Glaube hüllt sie vielmehr in Hoffnung. Nichts anderes umschreibt der kindliche Satz: „Opa ist im Himmel.“ Es sind Worte der Liebe, die nicht einfach aufhören will, nur weil gestorben wird.

 

Und nicht zuletzt: Er hat Witz – der Glaube an ein Leben nach dem Tod. Er sieht genau hin und nimmt das, was sich so bombastisch als Realität aufspielt, einfach nicht ernst. So ein Glaube ist das Kabarett in der Diktatur der Vernunft. In Georgien gibt es den Brauch, Ostern seine Toten auf dem Friedhof zu besuchen und mit ihnen Wein zu trinken. Mit ihnen und mit all den anderen Menschen, die auch ihre Toten besuchen. Sie feiern ein Fest des Lebens an den Gräbern, an der Grenze der uns bekannten Welt. Die Grenze zwischen Leben und Tod. Wer weiß? Vielleicht lässt sich einer, der an ein Leben nach dem Tod glaubt, auch nicht einreden, dass die Zivilisation jenseits der Grenzen unserer Kultur endet?

 

Wer sich diesen Glauben an ein Leben nach dem Tod leistet, kann lernen, der Macht des Faktischen auch sonst nicht das letzte Wort zu lassen. Und das hat auch im Alltag eine besondere Qualität. Man kann sich tatsächlich dafür entscheiden, diese Kühnheit, die Zärtlichkeit und den Witz in seinem Leben zu üben. Wie ein Kind das Schreiben übt. Oder ein neues Lied.

 

Und das Singen im höheren Chor? Die kühne, zärtliche, witzige Formulierung, die mir meine Vorfahren geschenkt haben, ist ein Platzhalter für diese größere Hoffnung. Außerdem male ich mir gerne aus, dass mein Vater seinen Platz gefunden hat in diesem höheren Chor, in den seine Stimme sich mühelos einfügt. Ein strahlender Bariton. Manchmal hat er sogar ein Solo. Wie alle anderen auch.

27.12.2015
Evamaria Bohle