Wenn die Wasser steigen

Wort zum Tage
Wenn die Wasser steigen
29.06.2021 - 06:20
24.06.2021
Michael Kösling
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Manchmal hilft ein wenig Biologie, den Gemütszustand zu beschreiben, in dem man sich befindet, nur um dann Ausschau zu halten, wohin es geht.  Das Bärtierchen zum Beispiel. Dieses niedliche, weniger als einen Millimeter kleine Tier. Es braucht Wasser zum Leben. Da reicht dem Bärtierchen schon ein dünner Film. Es kann lange Trockenzeiten unbeschadet überstehen. Seine Austrocknungsresistenz ist phänomenal. Es verkraftet Radioaktivität und Eiseskälte, sogar im Weltraum überlebt es. Ich ziehe den Vergleich, weil viele Menschen auf dem Trockenen gelegen haben. Seit über einem Jahr. Aus der Welt gefallen, katapultiert, gerissen. Keine Musik. Kein Gesang. Kein Tanz bis in den Morgen. Pandemiezeit ist Wüstenzeit, Einsamkeit, Mangel und Durst nach Leben. Wir beklagen in unserem Land fast 90 Tausend Tote. Viele haben sich selbst in einem Zustand der Kryptobiose befunden, einem Zustand, in dem das Leben nur noch verborgen da ist, schwach, todesähnlich. Der Stoffwechsel, der der Gesellschaft und der eigene, ist vielfach zum Erliegen gekommen. Aber jetzt steigt das Wasser. Zuerst in die Augen. Beim vorsichtig befreiten Gesang nach langer Zeit, oder bei den Klängen eines Orchesters. Beim Tanzen. Da werden die Augen schon mal feucht. Ein dünner Film. Leben zieht ein, ist wieder zum Greifen nahe. Schon zuckt die Hand und nur schwer halte ich sie zur Begrüßung zurück. Manchmal wage ich schon eine Umarmung. Religion ist ja auch eine Kulturtechnik. Sie ist deshalb auch auf Körperlichkeit angewiesen, wie es uns beim Tanz sofort einleuchtet. Werte, Ordnungen und Gemeinschaften werden körperlich verinnerlicht. Die religiöse Gemeinschaft ist eine Körperschaft. Und wir merken es auch. Haben es gerade in dieser Zeit gemerkt, in der der Körper, zum Glück nur öffentlich, zur Gefahrenzone geworden ist. Jetzt reicht oft schon wenig, ein dünner Film, und das Leben regt sich, weckt uns und zieht uns herauf. Wir sehen, was der biblische Prophet Jesaja gesehen hat: 
„Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude… Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.  Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein… Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“ (Jesaja 35) 
Das ist die gute Aussicht. Dahin geht es.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

24.06.2021
Michael Kösling