Entmenschlichung

Entmenschlichung
mit Pfarrerin Anke Prumbaum
21.10.2023 - 23:50
19.10.2023
Anke Prumbaum

Ich bin in unseren Herbstferien viel gereist – Busse, Fähren, Flugzeug und Metro, in verschiedenen Städten, im Inland und im Ausland. Ich hab viel in Warteschlangen gestanden.  Vor mir Menschen, hinter mir Menschen, rechts und links. Ich hab in die Gesichter geschaut, tu ich sonst auch, aber in den letzten zwei Wochen besonders. Ich hatte die ganz anderen Bilder aus den Nachrichten im Kopf. Monströse, grausame, verursacht durch Menschen. Und ich, ich  war ich unterwegs und sehe andere Menschen. Sie haben geredet und geschwiegen, haben gesessen und gestanden. Menschen. So normal. Wie soll ich das zusammen bekommen? Diese alltäglichen Bilder und die vom zerstörten Menschsein, vom zertrennten Menschsein. Ich versteh das einfach nicht. Was ist das eigentliche Menschsein? Das gute. Wenn es das gibt. Das Menschliche, neben dem Unmenschlichen. Wie alles im Moment mit einem großen Fragezeichen.

Nein, ich krieg es nicht zusammen. Bei mir haben Menschen auf ihre Handys geguckt und die Stirn gerunzelt, vielleicht, weil sie Schlimmes gelesen haben, und sie haben gelächelt weil sie etwas Schönes auf dem Display gesehen haben. Kein Gewehr in der Hand, kein hassverzerrter Blick. Manche haben einfach still aus dem Fenster geschaut. Was denken sie wohl, hab ich mich gefragt. Woran halten sie sich fest – die einen tragen ein Kreuz an der Halskette, der alte Mann da drüben bewegt seine Gebetskette zwischen den Fingern. Das jungen Mädchen hat eine Blume des Lebens als Tattoo. Am Flughafen hab ich auch einen Mann mit Gebetsschal gesehen. Menschen wie Sie, wie ich. Ein Vater erklärt seinem Kind etwas, es guckt fasziniert, und da ein Pärchen, das sich küsst.

Menschenbilder. Kann ich sie  vor die anderen Bilder schieben, vor die blanke Brutalität? Geht das?  Und dann schaue ich doch hin und  sehe die Menschen, und ich frage mich, wo steckt dieser Hass drin. Und wie kann so viel Hass da sein. Irgendwo steckt er. In wem? In allen? Und wovon nährt er sich? Von immer wieder eingetrichterten Haltungen, keinen Möglichkeiten der Annäherung oder des Verstehens, von Chancenlosigkeit und Nicht-Gesehen-Werden? Von Verweigerung allem anderen gegenüber, was nicht das Eigene ist? Und dann bricht er sich Bahn, durch irgendeinen Riss und dann kommt er raus und dann sehen die Menschen keine anderen Menschen mehr, sondern nur noch ihren Hass.  Blind vor Hass. Der Hass sieht nicht ins Gesicht, er sieht nicht die Spuren des Lebens, er sieht nicht die Züge der Person. Er entmenschlicht. Dabei sind da Menschen. So viele. So schöne. So verschiedene. Und doch alle gleich. Der Satz kommt nicht von mir. Sondern von Gott, an den ich trotz all dem glaube. Den die einen so nennen und die anderen so.

Ich habe in den letzten Tagen viel gelesen über historische Fakten, politische Einordnung. Viel Kluges, manches Überhebliches. Zu jeder Haltung gibt es ein „ja, aber“. Man könnte den Glauben verlieren. Aber an den Menschen und seine Logik und seine Systeme will ich auch nicht glauben. Ich finde in meinem Glauben Halt, er erzählt mir von Hoffnung, Mein Glaube sagt: entscheide dich für die Menschen. Entscheide dich, dass du daran glaubst, dass es ein friedliches Miteinander geben kann. Aber das sage ich für mich persönlich. Ich verstehe alle anderen, die das nicht hinbekommen im Moment.

Manches macht mich dankbar. Jedes friedliche Gebet, jedweder Religion! Und jeder Blick, der wirklich auf einen Menschen sieht. Es gibt wahrhaftig wenig, was zu helfen scheint. Der Blick des Hasses ist es nicht. Hass ist blind und Hass entmenschlicht. Hinschauen tut genau das Gegenteil. Es kann wieder vermenschlichen. Das brauchen wir, überall.

 

19.10.2023
Anke Prumbaum