Mit allem rechnen

Kerze im Schnee

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Mit allem rechnen
Unwahrscheinlichkeitsrechnung im Advent
29.11.2020 - 08:35
27.11.2020
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 "Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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„Willkommen im Advent“, sagt der Engel. Ich frage ihn, ob er das ironisch meint. Die Weihnachtsmärkte sind abgesagt. Jauchzet, frohlocket ist auf 2021 verschoben. Selbst der alljährliche Familienbesuch steht in den Sternen. Nichts ist wie sonst.

„Gut so“, sagt der Engel. „Niemand hat gesagt, dass im Advent alles beim Alten bleibt. Es wird Zeit, dass ihr euch bewegt. Advent heißt Ankunft und irgendwann hat es sich so eingebürgert, dass ihr gemütlich bei Spekulatius und Glühwein dasitzt und vergessen habt, worauf ihr wartet. Gut, wenn etwas Bewegung in die Sache kommt.“

„Was bist du für ein Engel?“, empöre ich mich, denn ich finde, das geht am ersten Advent wirklich zu weit.

„Ich bin der Engel, der stört. Ich kreuze durch euer Leben, egal ob euch das passt oder nicht. Ich halte euch wach, wenn ihr es euch zu muckelig gemacht habt. Ich nerve. Ich weiß. Gib zu, ihr wünscht euch einen anderen Engel. Einen, der tröstet oder der Harfe spielt. Ich kann höchstens Zwölftonmusik. Das wollt ihr auch nicht hören. Aber ich verspreche euch: Ihr werdet wieder tanzen, ihr werdet wieder reisen und ins Kino gehen. Ihr werdet wieder Freunde in den Arm nehmen. Dies hier ist nicht der Weltuntergang, auch wenn es ernst ist. Also hört auf, Trübsal zu blasen. Hört lieber auf die Verheißung.“

Dann ist er weg und lässt mich sitzen in meiner Küche.

Ich warte auf eine Menge Sachen. Ich warte auf eine Mail, den Bus und dass Gott redet. Ich warte auf den Tag, an dem mir mal wieder jemand ein Mixtape schenkt. Manchmal warte ich auf Grün – an der Ampel und im Februar. Ich warte auf den Impfstoff und dann warte ich darauf, aus all meinen Masken eine Patchworkdecke zu nähen. Ich warte auf das Morgengrauen, wenn ich mich schlaflos im Bett wälze. Ich warte darauf, dass sogenannte Querdenker aufhören, ihre Freiheit über die vieler anderer zu stellen. Ich warte auf den Moment, an dem niemand mehr Lust hat, wen in die Luft zu sprengen. An Silvester warte ich auf Mitternacht, weil es so schön ist, so zu tun, als ob alles neu wird. Ich warte darauf, dass Trump seine Niederlage eingesteht und in Rente geht. Auf Schnee warte ich auch.

Dass ein Retter kommt, der das alles im Gepäck hat, fällt mir schwer zu glauben.

Selbst wenn er Jesus heißt. Der die Seelen heilen oder zumindest dafür sorgen soll, dass wir die böse Welt da draußen einen Weihnachtsabendlang vergessen.

Ich versuche es trotzdem.

Er wurde in einem Stall geboren. Dennoch stand sein Leben unter einem guten Stern.

Man sagt, er verwandelte Wasser in Wein und er verstünde es, glücklich zu sein.

Aber er hortete sein Glück nicht. Freigiebig teilte er es tausendfach und es wurde immer mehr. Lilien und Vögel waren seine Lehrerinnen. Sich zu sorgen war nicht seine Stärke. Fasten lag ihm nicht. Er aß, wenn er hungrig war. Mit Betrügern teilte er sein Brot.

Blinden öffnete er die Augen. Gelähmten machte er Beine. Den Dämonen befahl er zu schweigen. Er ließ sich beschimpfen ohne Zorn. Hielt die andere Wange hin, liebte, widersprach, tauchte unter und wieder auf.

Selbst den schlimmsten Sturm konnte er stillen. Wenn es sein musste, ging er übers Wasser.

Dennoch wollte er nicht angebetet werden. Nie stellte er sich selbst in den Mittelpunkt.

Regelmäßig entzog er sich.

Er sagte: Fürchtet euch nicht. Immer wieder: Fürchtet euch nicht.

Fürchtet nicht, eure Hände dreckig zu machen, fürchtet euch nicht vor der Dunkelheit.

Fürchtet euch nicht vor leeren Räumen, Hasenfüßen und vorm Mittelmaß.

Fürchtet euch nicht, verloren zu gehen.

Fürchtet keine Großmäuler, Zahnärzte und bohrende Fragen.

Fürchtet euch nicht vor denen, die euch bedrohen.

Fürchtet euch nicht vorm Fallen und auch nicht vorm Fliegen.

Fürchtet euch nicht vor der Furcht.

Fürchtet euch nicht vor euren Träumen, auch nicht vor den Alpträumen.

Fürchtet euch nicht vor dem, was ihr nicht für möglich haltet.

Fürchtet euch nicht vor der Wahrheit, die manchmal hässlich ist.

Fürchtet nicht den Blick in den Spiegel. Fürchtet euch nicht vor dem Unbekannten und dem Buchsbaumzünsler.

Fürchtet euch nicht vorm Untertauchen und nicht vor der Tiefe. Auch nicht vor eurer eigenen.

 

Jesus säte Geduld. Den Sanftmütigen versprach er das Erdreich.

Heuchler waren ihm ein Graus. Die das Himmelreich abschließen wollen wie ein Privatgrundstück. Er öffnete es allen. Die Sehnsüchtigen und die Verfolgten holte er an seinen Tisch. Mit einem Verbrecher verabredete er sich im Paradies.

Er vergab jedem, der ihn bat. Stolz war für ihn keine Kategorie. Wer mit ihm eine Meile gehen wollte, mit dem ging er zwei.

Einigen ging das zu weit.

Aber er ging noch weiter. Er liebte seine Feinde. Er machte keine Unterschiede.

Die Sonne nahm er sich zum Vorbild und das Gleichmaß des Regens.

Er war für alle da. Niemanden schloss er aus.

Zeitlebens blieb er ein mäßig talentierter Rechner.

Vor Verschwendung schreckte er nicht zurück.

Es fiel ihm nicht schwer, alles zu geben.

Seine letzten Worte waren:

Ihr seid dran. Macht weiter.

Ich bin bei euch.

 

Wie wahrscheinlich ist es, dass so einer wiederkommt?

Und woran wäre er zu erkennen?

Mal angenommen, Sie wären das. Sie wären es, auf den die Menschheit wartet. Und ich bin es auch. Dass wir beide, Sie und ich jetzt aufstehen und die Welt retten, ist unwahrscheinlich, oder? Andererseits bedeutet Advent, mit dem Unwahrscheinlichen zu rechnen.

Wir sind dran. Bertolt Brecht schreibt in seinem Stück „Leben des Galilei“: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Der Satz wurde oft zitiert. Der vorhergehende Satz allerdings auch: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat.“ Zwei Menschen, zwei Stimmen. Sie können sich eine aussuchen.

Was wäre, wenn Advent nicht bedeutet, auf einen Helden zu warten, sondern Heldin zu sein? Und zwar zusammen. Sie und ich. Wir alle.

 

Natürlich kenne ich die Hinderungsgründe gut:

Ich habe nicht den nötigen Einfluss.

Ich weiß nicht, wo anfangen.

Wenn ich ehrlich bin, ist die Lage für mich selbst ja auch gar nicht so schlecht.

Ich bin zu jung oder zu alt.

Mein Internet funktioniert nicht.

Wir haben gerade ein Kind bekommen.

Es hört ja ohnehin niemand auf mich.

Ich bin auch so schon erschöpft.

 

Die Welt zu retten ist ja auch ein hehres Ziel. Dafür braucht es wahrscheinlich tatsächlich überirdische Kräfte. Wir als Menschheit sind uns ja noch nicht mal darin einig, wie eine gerettete Welt aussähe. Die einen sagen, Trump muss weg (und Putin, Orban und all die anderen Autokraten), die anderen feiern genau jene als Weltordner. Die meisten hoffen auf die Wirksamkeit eines Impfstoffes, während einige sicher sind, darin ein Instrument der Unterdrückung zu erkennen. Ich kann diese Aufzählung noch eine ganze Weile fortsetzen, aber das würde nur frustrieren. Das weiß ich ja alles. Und Sie wissen es auch. Und jetzt?

Willkommen im Advent, sagt der Engel. Hör auf die Verheißung!

Gehen wir an den Anfang der Geschichte. An den Anfang der Weihnachtsgeschichte.

Als Josef morgens aus dem Haus ging, war noch alles wie immer. Nur der Kaffee war eine Spur zu stark. Vielleicht würde er das brauchen heute. Bestimmt hatte er einen Plan. Einen kleinen oder einen großen: Tabak kaufen. Ein Boot zimmern. Spontaner sein. In den nächsten Wochen weniger arbeiten (oder mehr). Unbedingt die Tür zum Garten streichen. Nichts deutete darauf hin, dass sich an diesem Tag alles ändern könnte. Vielleicht würde es schneien. Aber damit musste man ja rechnen, um diese Jahreszeit.

In der Nacht kam der Engel. Er kam im Traum und sah aus wie sein alter Mathelehrer. Nur, dass knapp unter seinen Schulterblättern Flügel wuchsen. So gewichtig waren seine Botschaften. Der Engel hatte viel zu tun. Nacht für Nacht ging er durch die Träume der Menschen und flüsterte ihnen ins Ohr. Die Botschaften unterschieden sich, aber jede einzelne begann mit denselben Worten: „Alles wird anders.“ Der Engel sagte sie langsam und mit bedächtiger Stimme, als wolle er dem Anderen Zeit lassen, zu verstehen.

Josef mochte Veränderungen nicht besonders. Sie kamen immer so überraschend. Er war zuverlässig und pflichtbewusst, einer, der versuchte, auf alles vorbereitet zu sein. Dafür erwartete er im Gegenzug eine gewisse Kontinuität des Lebens. Er hätte also gern dankend abgelehnt. Die Möglichkeit bestand nicht.

„Rechne mit dem Unbekannten“, sagte der Mathelehrer-Engel streng. „Es könnte ein Geschenk des Himmels sein.“ Das Unbekannte war Josef schon immer suspekt gewesen. Besonders zu Weihnachten. Wo doch gerade da alles wie immer sein soll. Um 15 Uhr der Gottesdienst und um 17 Uhr gemeinsames Singen mit Oma und danach Semmelknödel zur Gans. Weihnachten war für Josef die Garantie, dass die Welt in Ordnung ist.

Der Engel brach in Lachen aus und ähnelte jetzt überhaupt nicht mehr seinem Mathelehrer. „Da hast du das Fest aber gründlich missverstanden!“ sagt er. „Weihnachten heißt: Nichts bleibt, wie es ist. Da wirst du rausgeschmissen aus deiner Bequemlichkeit. Weihnachten ist ein weites Feld. Weihnachten ist der Himmel, der offen steht. Weihnachten ist ein Weg durch die Dunkelheit, denn nur im Dunkeln siehst du den Stern. Weihnachten ist der Strohhalm, nach dem ein König greift. Weihnachten ist Hoffnung, die laufen lernt.“

Der Engel verschwand. Josef wälzte sich ein paar Mal unruhig auf seinem Kissen und schlief noch vier Stunden, bis der Morgen ihn weckte. Seinen Kaffee trank er nachdenklicher als sonst. „Was ist mit dir?“, fragte seine Frau. „Du wirkst so verändert.“ „Ich hatte einen Traum“, sagte Josef. Mehr nicht. Und dann ging er in die Nacht der Nächte ohne Plan. Mit einer schiefen Maske auf der Nase verließ er das Haus des Gewohnten und hielt Ausschau nach dem Unbekannten. Vielleicht würde ihm etwas in den Schoß fallen. Ein Stern, ein Wunder, ein Anfang, ein Kind.

Alles wird anders. Das ist Verheißung und Bedrohung. Für Josef. Für mich. Für Sie und die andern. Damit müssen wir leben, wenn wir Rettung suchen. Advent bedeutet nicht: Wir sitzen das aus, sondern wir gehen los. Zusammen. Mit allen sichtbaren und unsichtbaren Engeln.

Wir gehen durch die Nacht, die in diesem Jahr tatsächlich dunkler ist. Allein schon, weil in den Städten keine Weihnachtsbuden leuchten. Dafür kann man den Stern besser sehen.

Wir gehen durch die Nacht, die in diesem Jahr tatsächlich stiller ist. Weil keine Chöre singen. Dafür könnte es sein, dass die leisen Stimmen zu Gehör kommen. Engel brüllen nicht.

Wir gehen durch die Nacht, die in diesem Jahr einsamer sein könnte. Weil es kein Weihnachtsfeierhopping gibt. Möglich, dass wir uns stattdessen Königen und Königinnen anschließen. Solchen, die der unwahrscheinlichen Hoffnung folgen, dass es winzige Anfänge gibt, vor denen wir auf die Knie gehen.

Darum brechen wir jetzt auf. Sie und ich. Wir gehen die Welt retten, zusammen mit den anderen, die auch unterwegs sind. Da, wo wir am allerwenigsten damit rechnen, könnte das Wunder geschehen.

Es gilt das gesprochene Wort.

27.11.2020
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