Erinnerungsorte

Mohnblumenfeld

Gemeinfrei via unsplash.com (Matteo Kutufa)

Erinnerungsorte
Gedenken an das Ende des 1. Weltkriegs
18.11.2018 - 07:05
27.06.2018
Dirck Ackermann
Über die Sendung:

Orte aufsuchen und Zeichen entdecken dafür, dass die Kriegstoten nicht vergessen sind. Dass ihre Namen bewahrt sind und ihre Geschichten weiter erzählt werden. Dann kann Erinnerung mehr sein als Erinnerung. Sie wird zur Zeitansage. Sie stärkt den Friedenswillen und lässt Versöhnung möglich erscheinen.

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Ein herrlicher sommerlicher Sonntag in Flanderns Feldern. Sommerlich, obwohl es doch schon Herbst ist. Die Sonne taucht die Landschaft in warmes Licht.

 

In dieser traumhaften Landschaft höre ich Geschichten, die mein Herz nicht gerade erwärmen. In Flanderns Feldern. Hier fanden die Schlachten des ersten Weltkriegs statt. Vor hundert Jahren waren die Felder nicht goldgelb. Die Bilder, die mir gezeigt werden, zeigen Kraterlandschaften. Eine Landschaft, die durch Granaten und Bomben aufgewühlt ist. Aufgewühlt und durchfurcht von Schützengräben. Felder voller Gräber von Kriegstoten. Graue und braune Landschaft, gezeichnet vom ständigen Hin und Her der Sturmangriffe. Die einzigen Farbtupfer damals, so heißt es, waren die Mohnblumen im Frühsommer. Sie gedeihen besonders gut im von Tod und Verwesung gezeichneten Feld.

 

Mohnblumen in Flanderns Feldern. Rote Tupfer im Kriegsgebiet. Blumen auf frischen Gräbern.

Vor einem Gräberfeld stehen wir an diesem sommerlichen Herbstsonntag. „Essex Farm“ vor den Toren von Ypern. Hier befand sich im Frühjahr 1915 eine Stellung von kanadischen Soldaten, so höre ich. Hier starben zum ersten Mal Soldaten durch Giftgas. Ich höre von den schlimmen Verletzungen, die Menschen bei solchen Vergiftungen erleiden. Höre von dem verzweifelten Kampf der Ärzte, die Sterbenden zu retten. Hier in Essex Farm steht auch ein ehemaliges Feldlazarett. Der kanadische Arzt John McCrae bemühte sich täglich um die Verletzten und Sterbenden. Hier in Flanderns Feldern im Frühsommer 1915. An manchen Abenden, wird berichtet, sitzt John mit seinem Freund vor dem Lazarett. Erschöpft, verstört von den Kämpfen blicken sie auf die Mohnblumen. Sie erzählen sich Geschichten vom Leben und von der Liebe. Mohnblumen: Rote Tupfer als Zeichen des Lebens und der Liebe inmitten einer von Tod und Hass geprägten Landschaft.

 

Einen Tag später kommt der Freund durch einen Granatenangriff ums Leben. Geschockt und berührt vom plötzlichen Tod des Freundes schreibt der kanadische Arzt ein Gedicht: In Flanders fields the poppies blow. In Flanderns Feldern blühen die Mohnblumen. Ich höre die Worte des Gedichts. Spüre die Verzweiflung und das Erschrecken über den Tod, erahne die Angst, dass dieser Tod umsonst und sinnlos war, und höre Worte von Liebenden und Geliebten. Hier in Flanderns Feldern. Und ich sehe die Poppies, künstliche Mohnblumen auf den Gräbern der vielen Toten, in dieser traumhaften Landschaft. Für mich ein Zeichen, dass die Toten aus diesen Tagen nicht vergessen sind. Und dass wir die Toten aus diesen Tagen nicht vergessen dürfen. Eine Mahnung an uns, mehr zu lieben und für Frieden einzutreten.

 

 

 

Wie dunkel doch dieser Ort ist trotz des herrlichen Sommerwetters. Die Bäume geben dem Ort so viel Schatten, dass sich die Augen erst einmal an das wenige Licht gewöhnen müssen. Hinzu kommt noch der lange unbeleuchtete Durchgang, den wir gerade durchqueren. Unbeleuchtet deshalb, damit man die alten kolorierten Schwarzweißaufnahmen erkennen kann, aufgenommen von vor über hundert Jahren. Neben den Fotos die Erläuterung: Hier fand am 22. April 1915 um 17 Uhr der erste Giftgasangriff der Deutschen auf die alliierten Streitkräfte statt. Dann folgen noch die Erläuterungen, was das damals verwendete Chlorgas alles anrichtete. Zu diesen Texten passt die düstere Atmosphäre. Hier also fand die weitere Eskalation von Gewalt in dem großen Bruderkrieg des 20. Jahrhunderts statt.

 

Dabei sollte dieser Ort doch für etwas ganz anders bekannt werden. Langemarck in Belgien. Langemarck mit „ck“ geschrieben, wie das große Vorbild jener Tage: Bismarck, der eiserne Kanzler, der Schmied, der mit Blut und Eisen die deutsche Einheit geschmiedet hatte. Hier, nahe dem kleinen belgischen Ort, der doch so deutsch klingt, sollten in den ersten Kriegsmonaten tausende von jungen deutschen Kriegsfreiwilligen mal wieder einen Durchbruch durch die alliierten Linien wagen. Mit dem Deutschlandlied auf den Lippen stürmten die jungen Deutschen, viele Studenten darunter, so heißt es, sie stürmten vor und ließen zu tausenden ihr Leben. Dieser verlustreiche Angriff wurde schnell zu einem Sieg umgemünzt. Der Mythos von Langemarck war geboren. Er sollte die jungen Deutschen für den Krieg begeistern, für den ritterlichen Kampf, und sollte sie motivieren, ihr Leben zu geben für ..., ja, für was eigentlich?

 

Doch statt Heldenmut war grausame Kriegstechnik gefordert. Wie die Giftgasangriffe, die hier zum ersten Mal gestartet wurden. Wie viele Menschen, an Leib und Seele verletzt, haben wohl wie lange gelitten? Wie viele junge Menschen haben dadurch ihr Leben lassen müssen?

 

Eine halbe Stunde später sehe ich vor mir, wie jung manche damals waren. Ich stehe vor einem Grab. Dieser Soldat starb am 14. Januar 1916. Dann folgt das Alter: 15 Jahre. Ja: 15 Jahre. Ein 15 Jähriger zieht in den Krieg und lässt sein Leben. Und vor dem Grab sehe ich Stofftiere. Offensichtlich waren hier schon viele Jugendliche und Kinder; und waren betroffen wie ich.

 

An diesem Grab spüre ich, welche Schrecklichkeiten damals passiert sind. Damals in Langemarck in Belgien oder wo auch immer. Falsche Heldengeschichten wie beim Mythos von Langemarck kann ich dann nicht mehr hören.

 

Stattdessen lese ich die letzten Worte auf dem Grabstein: „Nicht aus dem Gedächtnis verschwunden, noch aus (der) Liebe“. Ja. Erinnern an die Kriegstoten als Aufruf für den Frieden. Solche Geschichten will ich weitererzählen.

 

 

 

 

Es war Ende April in London. Sonntagmorgen. Ein ungemütlicher Morgen. Der Regen schien horizontal zu fallen. So fühlte sich jedenfalls mein Gesicht an.

 

Ich war auf dem Weg zu einem Gottesdienst. St Clement Danes. Eine Kirche aus dem 17. Jahrhundert. Englischer Barock. An der Nobeleinkaufsstraße Strand gelegen. Gleich daneben der Royal Court of Justice. Die Kirche und das Gericht, beide beeindruckende Architektur.

 

Auf dem Platz vor der Kirche sehe ich Statuen von Menschen in Uniform: Royal Airforce, britische Luftwaffe. Ich lese die Namen am Fuß der Statuen. Die meisten Namen sagen mir nichts, nur einer: Air-Marshall Harris. Diesen Namen kenne ich: Bomber Harris. Chef des britischen Luftwaffenkommandos während des Zweiten Weltkriegs. Erfinder des Flächenbombardements auf deutsche Städte. Städte meiner Heimat kommen mir sofort in den Sinn: Hamburg, Kiel und natürlich Lübeck. Die alte stolze Hansestadt, Stadt der sieben Türme, und natürlich Stadt des besten Marzipans der Welt. Lübeck war die erste Stadt, auf die britische Bomber ihre todbringende Fracht abgeworfen haben. St. Marien wurde stark beschädigt. Und auch die Marzipanfabrik. Zerstörung von Kirchen im Krieg, als ob das kriegswichtige Ziele wären.

 

So stehe ich nun im kühlen London, vor dieser Statue, vor dieser Kirche. Ungemütlich das Wetter, ungemütlich meine Gedanken. Ich gehe in die Kirche. Herrliche barocke Einrichtung. Fliesen im Schachbrettmuster. Barocke Altäre. Doch dann sehe ich Photographien. Bilder dieser Kirche, wie sie in Flammen steht. Der Kirchturm brennt wie eine Fackel. Also auch hier, denke ich. Auch hier Bombenhagel und Zerstörung, Zerstörung einer Kirche. Doch hier war es die deutsche Luftwaffe.

 

Gewalt und Gegengewalt. Und nach allem sieht man nur Zerstörung. Ein wahrer Teufelskreis. Doch heute wollen wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Gottesdienst im Zeichen der Versöhnung. Im Zeichen des Nagelkreuzes von Coventry. Es ist das Versöhnungszeichen, das gleich nach dem ersten Bombenangriff der Deutschen in einer zerstörten Kirche errichtet wurde. Nun steht das Nagelkreuz auch hier, in St Clement Danes, in der von Bomben zerstörten und nun wieder aufgebauten Kirche. Und ich bin eingeladen, um mitzufeiern, dass die alte Feindschaft überwunden ist und wir miteinander Versöhnung erleben.

 

Als Gastgeschenk habe ich Lübecker Marzipan mitgebracht. Marzipan aus meiner Heimat.

Abends sitzen wir dann gemütlich am warmen Kamin. Nach einem ungemütlichen Tag. Und ich erzähle die Geschichte von Lübeck, von der zerstörten St. Marienkirche und der Marzipanfabrik. Das Feuer knistert. Der Rotwein wärmt das Herz. Und am Ende essen wir gemeinsam das Marzipan. So kann Versöhnung schmecken.

 

 

 

Es war einer jener herrlichen Sommertage im Juni. Die Sonne erstrahlte schon am frühen Morgen mit ihrem hellen Schein am glasklaren Himmel. Sie taucht die Stadt in goldgelbes Licht. Ich schaue vom Burgberg auf die Stadt herunter. Sehe die zahlreichen Kirchen, höre vielfältiges Glockengeläut. Blicke auf prächtige Gebäude, die im Laufe der Jahrhunderte vom Reichtum der Besitzer erzählen. Kann die Cafés entdecken, in denen ich in den Tagen zuvor mit Freunden diskutiert habe über die Aufstände, die hier stattgefunden haben, vor fünfzig Jahren, aber auch vor vierhundert.

 

Goldenes Prag. Heute spüre ich: Wie treffend ist diese Bezeichnung! Prag, hier war ich schon häufig. Hier habe ich gute Kollegen, ja Freunde gefunden. Eine Stadt, die zeigt, wie vielfältig europäische Kultur sein kann. Es gibt eine Vielfalt von Kirchen und eine Vielfalt von Konfessionen und Religionen. Eine Kirche schöner als die andere. Manche zeugen von der betörenden Schlichtheit mittelalterlicher Romanik. Manche strotzen nur so vor barocker Pracht.

 

Doch an diesem Junimorgen spüre ich auch etwas Anderes. Ich wende meinen Blick zurück auf ein Fenster der Burg. Der Prager Fenstersturz, erinnere ich mich. 1618, Beginn des 30-jährigen Krieges. Ein Drittel der mitteleuropäischen Bevölkerung stirbt in diesem Krieg. Die vielen Kirchen in Prag, sie zeigen auch: Christen haben gegeneinander gestritten, weit mehr als 30 Jahre lang, über Jahrhunderte hinweg.

 

Ich wandere von der Burg hinunter auf den Altstädter Ring und stoße auf ein Mahnmal. Hier auf dem zentralen Marktplatz wurden damals 27 Standesherren hingerichtet. Das Mahnmal erinnert an die jahrhundertlange Verdrängung der tschechischen Kultur.

Mein Blick wandert zum Turm der Teynkirche, gleich neben der Hinrichtungsstätte gelegen. Ich sehe die Marienstatue, sie glänzt im Sonnenlicht. Geformt aus dem Gold des hussitischen Kelches, der vorher an dem Turm aufgestellt war. Christen führten gegeneinander Krieg. Dann eine Marienstatue als Zeichen des Sieges und des Triumphes. Noch in Gedanken versunken merke ich auf einmal einen Unterschied. Der Kelch steht wieder an seinem Platz. An dem strahlenden Glanz des Kelches kann ich erkennen: Er steht noch nicht lange hier. Dieser neue Kelch ein Zeichen der Versöhnung vierhundert Jahre nach dem verheerenden Krieg?

 

Gut, das so etwas endlich möglich ist. Am Abend dann feiern wir auf der Prager Burg Gottesdienst. Alle Konfessionen gemeinsam: Römisch-Katholische, Hussiten, Böhmische Brüder, Herrnhuter, Lutheraner, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholische, Altkatholiken aus Tschechien und der Slowakei, aus anderen Ländern Europas und den USA.

In diesem Jahr, nach diesem Tag genieße ich das besonders: Christen setzen ein Zeichen und feiern Versöhnung und Frieden. Erinnern an die Zukunft Gottes.

 

 

 

Wenn ich über den Hof vor der Matthäuskirche in Berlin-Steglitz gehe, komme ich an drei großen Glocken vorbei. Beindruckende Erscheinungen. Grau und groß bestimmen sie seit ein paar Monaten das Bild unseres Kirchhofs. Vor Jahren konnte ich noch ihren Klang hören. Wenn sie läuteten, machten sie ein Riesengetöse. Und ich hatte den Eindruck, dass nicht nur ich von ihrem Geläut erzitterte, sondern auch die Wände unserer Pfarrwohnung. Ja ich spürte regelrecht, wie die Klöppel gegen die Glockenwände knallten. Glockengeläut als Donnergrollen. So war mein Eindruck.

 

Vier Jahre lang waren die Glocken nun nicht mehr zu hören. Ihr Klang, so sagten die Experten, hatten die Wände des Glockenturms so ins Zittern gebracht, dass der Turm einzustürzen drohte. Steine waren aus dem Turm herausgebrochen. Anfangs hieß es sogar, dass die Turmspitze auf unsere Wohnung zu fallen drohte, falls man nicht sofort das Läuten beendete. Und das tat man dann auch. Vier Jahre ohne Glockengeläut. Aufwändige Sanierungsarbeiten am Turm mit eigens dafür ausgebildeten Turmkletterern usw. usw. Vier Jahre lang kleine und große Abenteuer und Abenteurer vor unserer Haustür.

 

Glockenläuten als Lebensgefahr. Kein Wunder denke ich, wenn ich heute auf die Glocken schaue. Die Inschrift sagt: Kriegsersatz 1918. Die Glocken sind aus Stahl gegossen am Ende des Ersten Weltkriegs, aus Stahl als Ersatz für die alten bronzenen Glocken. Diese brauchte man vorher für Kriegsgerät. Kirchenglocken als Grundstoff für tödliche Gewalt. Als Ersatz Glocken aus Stahl, jenem Material, aus dem auch die Artilleriegeschosse und anderes Kriegsgerät damals gefertigt wurden und noch heute werden. Glocken mit stählernem Klang. Sie brachten fast den Turm zum Einsturz.

 

Auf der Inschrift lese ich dann noch: Unser Glaube ist der Sieg. So also: Glocken für den Sieg. Was für ein Widerspruch zur christlichen Friedensbotschaft. Gut, dass diese alten Glocken nun schweigen.

 

Seit dem Sommer haben wir nun neue Glocken. Sie sind wieder aus Bronze und auch wieder viel kleiner als die wuchtigen Ungetüme aus Stahl. Und ihr Klang ist so gestimmt, dass er auch zu dem Glockenklang der benachbarten katholischen Kirche passt – ökumenischer Einklang also. Jeden Tag, wenn nun die Glocken läuten, höre ich sanfte und klare Töne voller Harmonie. Und empfinde den Klang als eine Wohltat. Ja, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, nehme ich dieses Läuten als Zeichen des Friedens wahr. Als Klang des Friedens.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:

J.S. Bach, Partita II BWV 1004 und Sonata III BWV 1005, J.S. Bach Partitas & Sonatas BWV 1004 – 1006, Isabelle Faust (harmonia mundi)

27.06.2018
Dirck Ackermann