Antisemitismus ist keine Jugendsünde

Gemeinfrei via Unsplash/ Tingey Injury Law Firm

Antisemitismus ist keine Jugendsünde
Gedanken zur Woche von Pastor Matthias Viertel
01.09.2023 - 06:35
27.01.2023
Matthias Viertel
Über die Sendung:

Die Gedanken zur Woche im DLF.

Sendung zum Nachhören:
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen:

Kann man antisemitische Pamphlete als Jugendsünde erklären, oder gar entschuldigen? Eine Welle der Empörung hat ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung ausgelöst, in dem ein menschenverachtender Text veröffentlicht wird, der die Opfer des Holocaust auf primitivste Weise verhöhnt. Das Papier ist mittlerweile 35 Jahre alt, es wurde damals im Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg als Flugblatt verteilt und schließlich konfisziert. Als Autor der rechtsradikalen Gedanken wird der Wirtschaftsminister Bayerns genannt, denn bei ihm hatte die Schulleitung die Flugblätter gefunden und ihn dafür gemaßregelt. Allerdings bestreitet dieser inzwischen die Autorschaft.

Das alles sind wichtige Fragen, wer tatsächlich was geschrieben hat, und wer wem was in die Tasche steckte. Ebenso bleibt es ein Rätsel, warum die Schulleitung damals so harmlos reagierte, warum kein Schulverweis angedroht wurde. Das Abitur ist ein Reifezeugnis, und Reife kann niemandem zugesprochen werden, der solche Gedanken mit sich trägt. Ein Referat als Strafarbeit scheint da als disziplinarische Maßnahme unverantwortlich harmlos.

Viele offene Fragen, manche Verstrickung. Wichtiger aber als die Klärung, was wie in die Tasche kam, ist meiner Meinung nach die Frage, was in den Köpfen war und was noch immer in manchen Köpfen ist. Von vielen Seiten werden diese Ausführungen, die so primitiv und scheußlich sind, dass ich sie gar nicht zitieren mag, nun als „Jugendsünde“ apostrophiert. Wer von Jugendsünden spricht, hat meist ein verständnisvolles Lächeln auf den Lippen und will Milde gelten lassen. Die Charakterisierung als Jugendsünde soll verharmlosen.

Unbestritten gehören zur Jugend das Ausprobieren und Austesten, und in jeder Jugend gibt es wohl auch Irrwege. Genau das aber trifft im vorliegenden Fall nicht zu, es geht nicht um eine Jugendsünde. Im kirchlichen Zusammenhang wird ein Verhalten als Sünde bezeichnet, wenn es gegen ethische Normen verstößt, die durch das Gewissen gesetzt werden. Der zentrale Aspekt, der dem Reden über Sünden erst einen Sinn gibt, ist also das Gewissen. Das Wort Sünde ist zwar aus der Mode gekommen, der christliche Zusammenhang bleibt aber unbestritten. Wer im Alltag gegen Gesetze verstößt, wird bestraft, wer gesellschaftliche Regeln missachtet, muss um Entschuldigung bitten. Erst in dem Moment, in dem sich mein Gewissen meldet und sagt: Hier hast du einen schweren Fehler gemacht, der dich nicht zur Ruhe kommen lässt, erst dann wird von Sünde gesprochen. Von innen kommt diese kritische Anfrage nicht von außen.

Und das betrifft auch den zweiten Aspekt: Wer Jugendsünden benennt, muss Bußfertigkeit zeigen. Diese Reue ist keine Reaktion auf äußeren Druck, sie muss aus mir selbst kommen, weil sie das Gewissen spiegelt. Wenn die Reue glaubhaft sein soll, genügt keine Entschuldigung, hier bedarf es eines deutlichen Zeichens: Was ich damals gemacht habe, war ein schwerer Fehler, ich will es wieder gut machen nicht nur schönreden.

Antisemitische Äußerungen sind keine Jugendsünden, sondern schwere Verfehlungen. Jeder Schüler wird über die Pogrome gegen Juden in der deutschen Geschichte informiert, niemand kann sagen, er habe nichts gewusst über den Holocaust und den Antisemitismus der Nationalsozialisten. Deshalb sind nach § 46 im Strafgesetzbuch antisemitische Äußerungen als Straftaten zu ahnden. Die gesamte Gesellschaft muss sich gegen Judenhass wenden und die Verhöhnung der Opfer benennen und ihr deutlich widersprechen.

Eine besondere Rolle in der Gesellschaft aber haben wir Christen. Schon durch die untrennbare Verknüpfung von Thora und Bibel sind wir in Solidarität verbunden. Jesus und Maria, Paulus, Petrus und die anderen Jünger waren fromme Juden. Wer sich antisemitisch äußert, gräbt auch an den Wurzeln des christlichen Glaubens, und an dem Wertesystem, das unser Zusammenleben menschlich gestaltet. Eine Jugendsünde ist das wahrlich nicht.

Es gilt das gesprochene Wort.

Weitere Infos

27.01.2023
Matthias Viertel