Singen tut gut

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Gemeinfrei via unsplash / Felix Koutchinski

Singen tut gut
Musik berührt.
14.01.2023 - 10:00
05.01.2023
Reinhold Truß-Trautwein

Melodien haben Kraft. Sie machen Worte stärker. Sätze berühren mehr, wenn Töne und Klänge sie begleiten. Man spürt so oft noch besser, was sie tatsächlich sagen. Viele können ein Lied davon singen.

 

Mitte Januar kommen die vielen CDs mit Advents- und Weihnachtsmusik wieder zurück in den großen Karton. Und der wandert zurück an seinen Platz im Keller. Bis er dann zum nächsten Ersten Advent wieder nach oben kommt und sein Inhalt sich erneut in die Küche und ins Wohnzimmer ergießt. In der Weihnachtszeit hören wir deutlich mehr Musik also sonst. Und wir singen auch mehr, mit und ohne CD-Begleitung. Ich weiß, bei vielen anderen ist das genauso. Manche Lieder sind nicht nur bekannt, sondern auch vertraut, sind jeweils ein Stück Heimat, in der Melodie und im Text. Da findet man sich dann gerne wieder ein. Dass die eigene Stimme manchmal nicht so ganz der Erwartung entspricht, stört nicht weiter. „It’s fun to sing“, hieß das englische Liederbuch damals in der Schule. Stimmt. Singen macht Spaß bzw. Freude, je nachdem. Und man merkt schnell, wie gut es einem tut, dem Atmen, dem ganzen Körper, der Seele. Man sollte es öfter tun.

„Singer’s High“

Jedenfalls wird das Gefühl bestätigt von ausgiebiger Forschung. Wissenschaftler:innen verschiedener Fachgebiete beschäftigen sich mit den Phänomenen, die mit dem Singen einhergehen. Da kann man interessante Dinge erfahren. Der Atemstrom ist tiefer und stärker, die Stimmbänder schwingen anders als beim Sprechen. Im Gehirn wird beim Singen das Belohnungssystem in Gang gesetzt, das einem sagt: Gut gemacht, die Anstrengung hat sich gelohnt, du kannst dich freuen! Und hormonell passiert eine Menge: Verstärkt wird eine Substanz ausgeschüttet, die fürs gute Gedächtnis und für einen besseren mitmenschlichen Kontakt zuständig ist. Gleichzeitig werden die Hormone herunter gepegelt, die für Aggression und Stress sorgen. „Es gibt nicht nur das ‚Runner’s High‘ der Jogger, sondern auch ein ‚Singer’s High‘“, stellt der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz fest.(1) Darüber hinaus fördert das Singen eine intensivere Vernetzung der Synapsen im Gehirn. Längerfristig stärkt es sogar das Immunsystem. Darauf deutet eine Untersuchung hin, für die Speichelproben von Mitgliedern eines Kirchenchors jeweils vor und nach der Probe genommen wurden.(2) In einem Satz: Singen kann Menschen gesünder und klüger machen.

Mehr als Worte

Ist doch schön, wenn wissenschaftlich untermauert wird, was man unmittelbar wahrnehmen kann! „Singen ist schließlich ein archaisches Mittel, um Gefühle von Freude und Glück herauszulassen und mit anderen Menschen zu teilen“, sagt Gunter Kreutz.(3) Kein Wunder also, dass es auch in der Bibel eine große Rolle spielt. Die Psalmen sind ursprünglich mal richtige Lieder gewesen, Gebete zum Singen und Musizieren. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ (Psalm 103, 2) Sich an etwas Schönes erinnern und Gott loben gehen da in einem Atemzug zusammen. Und auch diese Worte werden intensiver, berühren mehr, wenn man sich vorstellt, wie Töne und Klänge sie begleiten. Man spürt so noch besser, was sie sagen: Gute Dinge nicht vergessen, sondern sie  erinnern und lebendig erhalten!

Ohrwurm

Melodien haben Kraft. Nicht nur bei Ohrwürmern kann man das feststellen, bei denen aber besonders. Es handelt sich da eher um „Hirnwürmer“ (Oliver Sacks). Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich ein Weihnachtslied vor mich hinsumme oder pfeife, irgendwann im Jahr, im August zum Beispiel: „God rest ye merry gentlemen“. Für zwei, drei Stunden bleibt die Melodie ein Ohrwurm. Eine kleine Irritation, die dann aber ein schöner Hinweis sein kann. Die Botschaft von Weihnachten ist eine fürs ganze Jahr: Jesus ist geboren, Gott kommt hinein in die Welt, will unser menschliches Leben teilen, hautnah und herznah. Es gibt ein zweites Weihnachtslied, das bei mir übers Jahr verteilt immer mal wieder auftaucht: „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein. Der immer schon uns nahe war, stellt sich als Mensch den Menschen dar. Bist du der eignen Rätsel müd? Es kommt, der alles kennt und sieht. Er sieht dein Leben unverhüllt, zeigt dir zugleich dein neues Bild. Nimm an des Christus Freundlichkeit, trag seinen Frieden in die Zeit! Schreckt dich der Menschen Widerstand, bleib ihnen dennoch zugewandt! Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein.“(4) Und da summe ich dann nicht nur die Melodie, da singe ich  tatsächlich alle fünf Strophen vor mich hin. Und manchmal richtig laut.

 

(1), (2) und (3) entnommen aus: Tagesspiegel, 24.12.2022, S. 19.
(4) Evangelisches Gesangbuch 56, Text und Melodie: Dieter Trautwein 1963.

05.01.2023
Reinhold Truß-Trautwein