Das Wort zum Sonntag: Dutroux - Barmherzigkeit?

Das Wort zum Sonntag: Dutroux - Barmherzigkeit?
Pfarrer Ulrich Haag
01.09.2012 - 22:40

Heute will ich nicht zuerst über die Nonnen reden, die die Frau und Mittäterin des belgischen Kinderschänders Dutroux bei sich aufgenommen haben. Auch nicht über eine Justiz, die womöglich versagt, weil sie Straftäter zu früh oder zu spät entlässt. Heute möchte ich zunächst über die Opfer sprechen. Ich bin Gefängnispfarrer und weiß aus vielen Gesprächen, wie die Opfer leiden. Die gequälten Mädchen in ihrem Kellerverlies dort in Belgien haben Dinge erlebt, die so grauenhaft sind, dass man sie sich nicht vorstellen will. Und die Möglichkeit, eine meiner Töchter könnte auch solch einem Peiniger in die Hände fallen, erfüllt mich als Vater mit Schrecken. Was erst müssen die Eltern der missbrauchten Mädchen durchgemacht haben? Was machen sie durch – bis heute? Denn das sind die Qualen der Opfer: Für den Rest ihres Lebens werden sie die Erinnerung an das Geschehene nicht mehr los.

Nun kommt Michelle Martin, die Komplizin des Kindermörders auf freien Fuß. Sie zieht in ein Kloster bei Malonne im Süden des Landes. Die Nonnen dort gehören zum Orden der Klarissinnen und haben es sich von jeher zur Aufgabe gemacht, diejenigen aufzunehmen, die in der Gesellschaft sonst keinen Platz mehr finden.

Und die Opfer? Muss ihnen diese Barmherzigkeit nicht erbarmungslos vorkommen? Ist sie nicht auch unbarmherzig denen gegenüber, die sich noch allzu deutlich an die schrecklichen Ereignisse erinnern? Die Bilder sind uns präsent. Das Entsetzen ist noch nicht abgeklungen. Für die Opfer und viele andere ist es zu früh, viel zu früh. Für sie sollte Michelle Martin im Gefängnis bleiben.

Nur: Wann ist dann genug gestraft? Wann genug gesühnt? Ich bin hin und her gerissen, als Pfarrer, als Vater, als Christ. Als Gefängnispfarrer, weiß ich, wie schlimm es ist, über Jahre hin eingesperrt zu sein, und wie groß die Sehnsucht ist, endlich in Freiheit zu kommen. Als Vater will ich einer Kindermörderin nicht nach einigen Jahren schon wieder auf der Straße begegnen. Als Christenmensch schließlich denke ich an den, der für die gebetet hat, die ihn ans Kreuz schlugen. Schaffe ich es, ihm zu folgen? Oder muss ich kapitulieren? Seine Barmherzigkeit kannte keine Grenzen, ja, aber meine, menschliche Barmherzigkeit kennt sie. Sie hat dort ihre Grenzen, wo sie mit den Gefühlen der Betroffenen zusammenstößt.

Wir wünschen uns eine Welt, in der Menschen einander wie Menschen behandeln. In der es Gewalt, erst Recht solche Gewalt gegen Kinder, gar nicht erst gibt. Und wenn es sie doch gibt, sehnen wir uns wenigstens danach, dass die Wunden heilen, die solche Verbrechen schlagen. Aber heilen kann etwas am besten da, wo wir unser Bedürfnis nach Vergeltung überwinden und versuchen, zu verzeihen. So jedenfalls verspricht es der, der seinen Peinigern noch im Tod verziehen hat. Wir brauchen Menschen die bereit sind, ihm dabei zu folgen. Wir brauchen welche wie die Klarissinnen von Malonne, die bereit sind, lieber etwas zu früh und etwas zu viel Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Es ist schwer, gegenüber den Tätern den Weg der Vergebung und Barmherzigkeit einzuschlagen. Es kostet Überwindung, mich auch. Aber auf diesem Weg wartet irgendwann die Erlösung auf uns. Und es begleitet uns der, der sich für seine Menschenkinder nichts sehnlicher wünscht als dass sie zum Frieden und zur Versöhnung finden.