Sterben am Mund Gottes

Blick vom Berg Nebo

R. Müller

Blick vom Berg Nebo

Sterben am Mund Gottes
Ein Lob der Vergänglichkeit
25.11.2018 - 08:35
07.09.2018
Dietrich Heyde
Über die Sendung:

Der Ewigkeitssonntag erinnert daran: Zeit ist Gnade. Wie dicht Gott diese Gnade am Menschen denkt, beschreibt Dietrich Heyde in seiner Sendung "Am Sonntagmorgen"  - um 08.35 Uhr im Deutschlandfunk.

 
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Im Mai 1519 erreichte Luther vom Hof Friedrichs des Weisen die Bitte, er solle doch etwas schreiben zur Vorbereitung auf den Tod. Ein Jahr später erschien sein „Sermon von der Bereitung zum Sterben“, der reißend verkauft und ins Lateinische, Dänische und Niederländische übersetzt wurde. Was Luther schrieb, knüpft an die spätmittelalterliche Tradition der „ars moriendi“, der „Kunst des Sterbens“ an. Schriften dieser Art dienten zur Erbauung und Stärkung im Glauben und waren sehr beliebt. Von dieser Tradition wissen die Menschen heute kaum noch etwas. Vorbereitung auf den Tod, auf das Sterben erfüllt sie mit Unbehagen. Schon der Physiker und Philosoph Blaise Pascal erklärte:

 

„Da es den Menschen nicht gelungen ist, den Tod abzuschaffen, haben sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken.“

 

Dabei wäre es wichtig, ja heilsam, sich das Sterben, also die eigene Lebensgrenze, immer wieder vor Augen zu halten. Wo es geschieht, leben wir bewusster, verstehen wir mehr vom Dasein auf dieser Erde. Nicht zufällig bittet der biblische Psalmsänger:

 

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,

damit wir klug werden.“ (Psalm 90,12)

 

Es hat ganz offensichtlich die Klugheit, die einem Menschen zuteil werden kann, etwas damit zu tun, dass er sein Sterben bedenkt. Die Vertrautheit mit dem Gedanken an den Tod trägt viel dazu bei, unser Leben gelöst und gelassen, kreativ und heiter zu machen.

In einer Beerdigungskantate von Johann Sebastian Bach, die er im Jahr 1707, im Alter von 22 Jahren, komponiert hat, heißt es:

 

„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.

In Ihm leben, weben und sind wir, solange Er will.

In Ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn Er will.“

 

Das ist ein kühnes, mutiges Wort im Angesicht des Todes. Aber wenn es stimmt, was der Psalmsänger bekennt, dass eines Menschen Zeit vom ersten bis zum letzten Atemzug in Gottes Händen steht – muss dann nicht auch seine Todesstunde Gottes Zeit sein? Es gibt ein ungewöhnliches biblisches Beispiel dafür, dass unsere Todesstunde Gottes Zeit ist:

 

Von Mose, der das Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt und vierzig Jahre durch die Wüste geführt hat, heißt es, er sei am Ende seines Lebens im Ostjordanland auf den Berg Nebo gestiegen. Dort habe er über die Jordansenke hinweg das Land Kanaan gesehen, das Gott seinem Volk verheißen hat, er selbst aber nicht mehr betreten durfte. Nach biblischem Zeugnis war Mose 120 Jahre, als er starb. Und es heißt:

 

„Seine Augen waren nicht schwach geworden,

und seine Kraft war nicht verfallen.“ (5.Mose 34,7)

 

Moses Seele war ungealtert und ungebrochen bis zum Ende. Und dann folgen die Worte: „Mose, Gottes Knecht, starb im Lande Moab af al pi adonaj / nach dem Wort des Herrn“, übersetzt Luther. Der hebräische Wortlaut ermöglicht aber auch die Deutung „am Mund Gottes“. Mose starb am Mund Gottes, also „mit einem Kuss“ (5.Mose 34,5).

Keine andere Macht als Gott selbst hat mit einem Kuss das Erdenleben seines Propheten aufgelöst. Nur das Irdische. Nicht mehr. Denn die Tora, die Mose auf dem Horeb, dem Gottesberg, empfangen und die Gott ihm in Herz und Sinn geschrieben hat, ist mit seinem Tode nicht verfallen. Über Gottes Wort, das sich mit dem Menschen verbunden hat und in ihm lebt, hat der Tod keine Macht. Ins Grab kann es nicht verschlossen werden.

Als Mose auf dem Berg Nebo starb, ging seine Seele um dieses Wortes willen auf in der innigen Vereinigung des Kusses, in der Liebe Gottes. Dass Mose am Mund Gottes starb, hat grundlegende Bedeutung. Nach biblischem Zeugnis ist es Gott, der Leben gibt und Leben nimmt:

 

„Sendest Du, Gott, Deinen Odem, so werden die Menschen geschaffen

und Du machst neu das Antlitz der Erde.“ (Psalm 104,30)

„Nimmst Du weg ihren Odem, so vergehen sie

und werden wieder zu Staub.“ (Psalm 104,29)

 

Im Hebräischen steht hier für „Odem/Atem“ das Wort „ruach“, das auch Wind, Geist und Seele bedeutet. Was wir „Leben“ nennen und mit Atem, Geist und Seele identisch ist, kommt von Gott und kehrt zu Gott wieder zurück.

Ich könnte auch sagen: Unser Leben beginnt am Mund Gottes und endet am Mund Gottes. Gott haucht uns den Lebensatem ein, küsst uns wach zum Leben auf dieser Erde, wenn wir im Mutterleib empfangen und geboren werden. Und dieser Lebensatem kehrt heim zu ihm, wenn wir sterben.

Und was geschieht dazwischen, zwischen Geburt und Tod? Da leben wir von der Hand Gottes, wie es der Psalmbeter treffend umschreibt:

 

„Es warten alle auf dich, Gott, dass Du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit.

Wenn Du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust,

so werden sie mit Gutem gesättigt. (Psalm 104,27f)

 

Das also ist in biblischer Sicht unsere Realität: Das Leben beginnt am Mund Gottes; und es lebt, solange wir auf dieser Erde sind, vom Mund Gottes; und es stirbt am Mund Gottes. Ich hätte statt „Mund“ auch „Kuss“ sagen können, um die unmittelbare Nähe und Liebe Gottes zum Menschen im Leben und im Tod zum Ausdruck zu bringen.

 

Nach Rumi, einem persischen Dichter aus dem 13. Jahrhundert, gleicht der Mensch einer Flöte, die nur tönen kann, wenn sie von der Lippe des Spielers berührt wird und mit Atem erfüllt wird. Dieser Spieler ist für ihn Gott. ER ist des Menschen Atemgeber. Es ist der Kuss seines Mundes, der uns Luft gibt und mit Odem und allem versorgt, was wir Menschen zum Leben brauchen. Ohne Ihn kein Leben, keine Lebensmelodie.

 

Auf einen Satz gebracht: Geboren werden und leben, leben und sterben – nichts geschieht ohne Gott. Alles geschieht af al pi adonaj: nach dem Wort des Herrn; es geschieht am Mund Gottes, mit einem Kuss Gottes.

 

Vergänglichkeit ist biblisch gesehen nichts Trauriges. Sie ist nur ein anderes Wort für Verwandlung, die ewig ist. Nichts bleibt, wie es ist. Aber nichts geht Gott verloren. Denn alles Auflösen und Vergehen geschieht um des Werdens willen.

 

 

 

Als der Schriftsteller Thomas Mann einmal gefragt wurde, woran er glaube und was er am höchsten stelle, gab er diese Antwort:

 

„Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit, –

und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe,

identisch mit allem Schöpferischen und Tätigen“. (1)

 

Beruht nicht tatsächlich der Reiz, ja die ganze Faszination des Lebens gerade darauf, dass es begrenzt ist? Warum sollte ich heute schon tun, wozu auch später, sagen wir in hundert Jahren, noch Zeit wäre? Es ist die Vergänglichkeit, die Begrenztheit unserer Zeit, die dem Leben Entscheidungscharakter gibt, die Kreativität schafft und allem, was wir tun, seinen Wert.

 

Wenn das so ist, wie Thomas Mann sagt, dann stellt sich die Frage, was das ist: Zeit? Und wem gehört sie? Um zu einer Antwort zu kommen, ist mir ein Wort aus den biblischen Psalmen hilfreich geworden, das lautet:

 

Meine Zeit steht in Deinen Händen, Gott.“ (Psalm 31,16)

 

Mit „Zeit“ ist gewiss meine Lebenszeit gemeint. Also die Zeit zwischen Geburt und Tod, die Tage, Monate und Jahre, die ich lebe. Aber „Zeit“ meint hier noch mehr. Sie bedeutet soviel wie „Geschick“. Also meine Lebensgeschichte, meine Erfahrungen, Wünsche und Ziele. Das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, dunklen und hellen Seiten, die bei jedem Menschen anders Ausdruck finden. Von dieser Zeit, heißt es, sie stehe in Gottes Händen.

 

Damit sagt der Psalmbeter zunächst, dass auch die begrenzte Zeit unseres Lebens in Wahrheit gar nicht uns Menschen gehört. Sie ist nicht unser Besitz. Das könnten wir aus Erfahrung wissen, wenn wir daran denken, wie unberechenbar das Leben ist. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Tornados oder auch die vielen von uns Menschen verursachten Unglücksfälle bis hin zu Krankheit und Verlust, die plötzlich über uns kommen können, führen uns schmerzhaft vor Augen, wie schnell alles ganz anders kommen kann, als wir gedacht und geplant haben. Zeit ist und bleibt für uns Menschen eine unbekannte, geheimnisvolle, nicht berechenbare Größe.

Was aber meint der Psalmbeter, wenn er sagt, unsere Zeit stehe in Gottes Händen?

Er meint, dass unsere Zeit Geschenk ist, eine Gabe Gottes. Dass es sich so verhält, wurde mir in einem Bild anschaulich:

 

Im Landkreis Bremervörde gibt es ein kleines Dorf mit einer alten Kirche, deren Turm eine Uhr hat. Das Besondere dieser Turmuhr ist – ihr Zifferblatt hat statt der Zahlen zwölf Buchstaben. Die ergeben den Satz: ZEIT IST GNADE. „Zeit“ hat vier, „ist“ drei und „Gnade“ hat fünf Buchstaben – macht zusammen zwölf. Wer also auf diese Uhr schaut, wird daran erinnert: „Zeit“ ist ein unverdientes Geschenk, ja, eine große, wunderbare Gabe, genauer: Eine Leihgabe Gottes. „Zeit“ ist uns Menschen immer nur geliehen.

In einem Trauergespräch meinte mal jemand:

 

„Ach wissen Sie, wenn unsere Uhr abgelaufen ist, dann ist sie abgelaufen.“

 

„Das ist wahr“, habe ich geantwortet, „traurig wahr. Aber noch wahrer ist, dass Gottes Zeit mit uns nicht aufhört, wenn unsere irdische Lebens-Uhr abgelaufen ist. Denn Gottes Uhr bleibt nicht stehen. Sie kennt kein Vergehen. Darum ist der Tod für uns Menschen keine absolute Grenze mehr. Gottes Hände haben den Tod aufgehoben – im doppelten Wortsinn. Das Leben hat über den Tod gesiegt.

 

Wie schön und befreiend es schon in diesem Leben ist, zu wissen, dass unsere Zeit in Gottes Händen steht, hat der Kabarettist Hanns-Dieter Hüsch einmal mit diesen Worten besungen:

 

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.

Gott nahm in seine Hände meine Zeit,

mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,

mein Triumphieren und Verzagen,

das Elend und die Zärtlichkeit.

 

Was macht, das ich so furchtlos bin

an vielen dunklen Tagen?

Es kommt ein Geist in meinen Sinn,

will mich durchs Leben tragen.

 

Was macht, dass ich so unbeschwert

und mich kein Trübsinn hält?

Weil mich mein Gott das Lachen lehrt

wohl über alle Welt.

 

„Vergnügt, erlöst, befreit“ hat diesen Mann das Wissen gemacht, dass Gott seine Zeit – das heißt sein Leben, sein Geschick – in seine Hände nahm.

Wie mag er zu dieser Einsicht gekommen sein?

 

Vielleicht wusste er darum schon von Jugend an durch ein besonderes Erlebnis. Denn von dem Kabarettisten Hanns-Dieter Hüsch heißt es, er sei mit einer Anlage zum Klumpfuß auf die Welt gekommen. Seine Füße standen nach innen. Zwar konnte er dies bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr weitgehend ausgleichen. Doch hat er sehr darunter gelitten. Er wurde von starken Selbstzweifeln heimgesucht, bis er eines Tages ein Lied schrieb – mit dem Titel „Ich bin ja so unmuskulös“ und anfing, seine körperliche Beschaffenheit durch den Kakao zu ziehen. Hüsch sagt, die Leute hätten sich kaputt gelacht. Und er sah plötzlich die Chance, seine Behinderung, sein Unvermögen in sein Leben zu integrieren. Später hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Mein Leben verdanke ich meinen Füßen.“

 

Wenn Gott unsere Zeit in seine Hände nimmt, kann es geschehen, dass sich unsere Schwächen in Stärken verwandeln. Und wir können entdecken, dass mit jedem Menschen etwas in die Welt gekommen ist, was zu verwirklichen, gerade ihm, nur ihm aufgetragen ist. Zusammengefasst gesagt:

 

Wenn der Mensch geboren wird, hat er die Hände zusammengeballt,

als wollte er sagen: „Ich erobere die Welt.“

Wenn er stirbt, sind seine Hände ausgestreckt, als wollte er sagen:

„Ich habe nichts zurückbehalten, alles gehört dir, o Gott.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

„Air“ aus der Orchestersuite Nr. 3 D-Dur BWV 1068, Kammerorchester Berlin (Leitung: Helmut Koch), Johann Sebastian Bach
 

Literaturangaben:

Thomas Mann, Essays Band 6, Meine Zeit 1945-1955, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, S. Fischer Verlag 1997, S. 219
 

07.09.2018
Dietrich Heyde