Was mich hält. Von Ankern, Knoten und Netzen

Gemeinde der Auferstehungskirche Überlingen

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Was mich hält. Von Ankern, Knoten und Netzen
Live-Übertragung aus der Auferstehungskirche, Überlingen
02.07.2023 - 10:05
27.01.2023
Dekanin Regine Klusmann
Über die Sendung:

Evangelischer Rundfunkgottesdienst am 2. Juli 2023 (4. Sonntag nach Trinitatis) aus der Auferstehungskirche in Überlingen  im Deutschlandfunk, 10.05 bis 11 Uhr

Für die Einheimischen und für die vielen Touristen am Bodensee, sind das alltägliche und vertraute Gegenstände: Netze, Knoten und Anker. Erst recht für die verbliebenen Fischer in Überlingen - wie für die ersten Anhänger von Jesus, die in den Dörfern am See Genezareth vom Fischfang gelebt haben.
Wo mache ich meinen Lebensanker fest? Welche Netzwerke tragen mich, welche Knotenpunkte halten mich? Danach fragt Dekanin Regine Klusmann in ihrer Predigt. Die biblische Erzählung vom sinkenden Petrus bietet Orientierung.
Das Heinrich-Schütz-Vocalensemble unter der Leitung von Kantor Thomas Rink und Kantorin Stefanie Jürgens gestalten den Gottesdienst musikalisch.

Gottesdienst nachhören:
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Predigt zum Nachlesen:

I - Anker

„Herr, rette mich!“ ruft Petrus, der in den Wellen zu versinken droht. Und Jesus streckt die Hand aus, ergreift ihn und zieht ihn aus den Fluten: „Du Kleingläubiger, warum hast Du gezweifelt?“
Für mich eines der stärksten Bilder unserer Bibel: Da ist Petrus, der schon viele Wunder gesehen hat. Lang schon ist er mit Jesus unterwegs. Und er sah, wie Kranke geheilt und Hungrige satt wurden. Selbstsicher und glaubensgewiss ist er. Und ja, wohl auch etwas großmäulig. Und dieser mutige, selbstgewisse Petrus, meint nun ein Wunder provozieren zu können: Herr, lass mich auf dem Wasser gehen! Du brauchst es nur befehlen - dann wird das Wasser tragen!
Gesagt, getan. Die ersten Schritte auf dem blauen Nass - sie tragen. Wohl auch ohne, dass Petrus weiß, wo die Steine liegen .... Doch dann - nur einen kleinen Augenblick - wendet Petrus den Blick von Jesus ab und sieht den starken Wind, die Wolkentürme am Horizont, die Wellen. Er erschrickt. Und Angst ergreift sein Herz. Und er spürt, wie das Wasser steigt und er in den Fluten versinkt.

Erfahrung des Scheiterns. Zurückgeworfen auf die eigenen Unfähigkeiten und Unzulänglichkeiten.
Die Wellen, die Angst. Das Wasser bis zum Hals. Der Blick starr auf die Fluten gerichtet. Gelähmt vor Angst kann Petrus den Blick nicht abwenden von der Bedrohung und dem Schrecken. Völlig paralysiert kann er beinah die Hilfe nicht sehen: Die ausgestreckte Hand Jesu, die doch greifbar nah ist. Der aber packt zu und zieht ihn wieder heraus aus der Flut. Wie der Fisch, der Jona an Land spie.

Manchmal - an schönen, hellen Tagen - bin ich ein bisschen wie Petrus: Glaubensgewiss und selbstsicher: Ich habe schon viele Wunder gesehen: Da ist Gottes wunderbare Welt:  die Schönheit der purpurnen Sonnenuntergänge hier am Bodensee; die mächtigen schneebedeckten Berge am anderen Ufer, die Fische im Wasser, die Möwen und Schwäne, die Blumen am Ufer. Der See spiegelglatt und ruhig. Manche sagen, wir leben hier im Süden Deutschlands im Paradies; hier wachsen paradiesische Äpfel und hier wird Wasser zu Wein. Aber da sind auch die anderen Wunder - kleine und Große: die Geburt unserer Kinder -  „und ich hab behutsam nachgezählt, ob dir kein Zeh, kein Finger fehlt“ - wie Hermann van Veen mit zarten Worten das Wunder der Geburt eines Kindes zu beschreiben versucht; Und dann das Glück, sie aufwachsen zu sehen, wie sie ihren Weg machen. Und dann für mich selber die Bewahrung in der Not und das alltägliche Wunder, aufzustehen, die Augen und Ohren zu öffnen und den neuen Tag zu beginnen. So viele Wunder - die nicht selbstverständlich sind!

Doch manchmal - an nebeltrüben Tagen - bin ich der andere Petrus: denn das andere habe ich auch gesehen oder gehört: Den Sturm des Zweifels und die Angst, dass es nicht gut geht mit unserer Welt: Ich höre von Gewalt und Kriegen in der nahen und fernen Welt, in der Ukraine, in Israel, dem Sudan und in Kamerun; ich erlebe Klimakrise und Dürre und sorge mich um unsere Wälder und Seen; ich erlebe Krankheit und Tod und Menschen, die darüber verzweifeln. Und dann manchmal Menschen, die das alles nicht kümmert - die mit einer „Nach-mir-die -Sintflut“-Haltung leben. Da steht einem schon mal das Wasser bis zum Hals und man weiß gar nicht, wie es weiter gehen soll.
Angst ergreift das Herz; ich spüre Unzulänglichkeiten und Unfähigkeiten - meine eigene und die von anderen - und ich erschrecke: Gleich werden die Wellen über mir zusammenschlagen!
Petrus ruft: „Herr, rette mich!“
Auch ich rufe „Rette mich!“ - Du, Herr der Welt, der es gut meint mit uns, hilf!
Und siehe, auf einmal spüre ich eine Hand, die mich mit festem Griff hält und aus dem Nass zieht. Die Lunge füllt sich wieder mit Luft und ich atme. Langsam kann ich die Augen öffnen. Und da ist der, der mich gehalten hat: Gott; Jesus; heiliger Geist - viele Namen für den, der der Grund meiner Hoffnung ist. Der mir hilft, nicht aufzugeben, mich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht im Wasser zu versinken.

Jesus streckt seine Hand aus, um Petrus aus den Fluten zu ziehen und ihn zu halten. Und siehe: Er hält auch mich! In Sturm und Angst. Der Kopf über Wasser. Ich atme und öffne die Augen. Hoffnung füllt neu meine Lunge und Angst kann mich nicht mehr lähmen. Ich werfe meinen Hoffnungsanker in den Himmel und mache mich fest an Gott. Zu Gott, der mitten in allen Stürmen bei mir ist. Und ich weiß: Gott meint es gut mit mir. Und mit Dir! Hab keine Angst!

 

II - Knoten

Wenn man hier am See das Segeln lernt, gehört eine ganz wichtige Technik dazu: das Knoten. Es gibt Palstek, Kreuzknoten, Schotstek und andere mehr. Knoten dienen dazu das Boot, das Segel oder den Anker festzumachen. Wer diese Technik nicht richtig beherrscht, kann schon mal richtig in Seenot geraten. Und ja, das gibt es nicht nur bei Jona oder am See Genezareth, sondern auch hier am schönen Bodensee: Plötzlich aufkommender Sturm - am liebsten vom Westen her - hat schon so manches Boot kieloben treiben lassen. Da ist es gut, wenn Knoten beherrscht und weiß, wie man sich festmachen kann.

Damit es einem nicht so ergeht wie Petrus, der in Angst versinkt, ist es gut, sich festzumachen; den Blick von den Fluten abzuwenden und wieder auf Jesus zu schauen. Sich sozusagen an der Hoffnung festzuknoten. Doch wie kann das gehen? Die Hoffnung fällt meistens nicht vom Himmel. Sie ist nicht einfach so da. Immer wieder brauche ich die anderen, die für mich hoffen, wenn ich zweifle. Die für mich glauben, wenn ich kleingläubig bin. Und die mir von der Hoffnung erzählen und von der Liebe Gottes, die auch mir gilt. Ich brauche die Gemeinschaft der Hoffenden, um nicht im Meer der Zweifel abzutreiben. Um mich immer wieder festzuknoten. Die Gemeinschaft der Hoffenden erinnert mich daran, dass Gott mit seiner Welt, mit dieser Welt noch nicht fertig ist und dass er es gut meint mit mir und uns allen. Alles wird gut werden: Jona wurde gerettet, Petrus aus dem Wasser gezogen, der Regenbogen und trockenes Land nach der Sintflut. Hoffnungsknoten.

Aber wie beim Segeln - muss man auch diese Knoten der Hoffnung üben. Dafür brauche ich die Stille, die Zwiesprache mit Gott, aber auch die anderen Christenmenschen: Hoffnungs- und Glaubens-lehrer*innen; ich brauche die Gemeinschaft mit ihren Ritualen und Erinnerungen, ihren Geschichten und ihrer Zuwendung. Zum Festmachen im Glauben brauche ich andere, das kann ich nicht allein. Und da reicht auch nicht ein YouTube-Erklärvideo. Ich brauche die leibhaftige Gemeinschaft der Christen.

Das wusste auch schon Petrus. Als er nach Jesu Auferstehung und Himmelfahrt zum Glaubenslehrer für die Gemeinschaft der ersten Christen wurde. Wir müssen uns als Gemeinschaft verknoten, denn nur so können wir am Glauben festhalten. Und in dieser Gemeinschaft soll etwas sichtbar, werden von dem, was sie hält und trägt: von der Liebe Gottes. Im 1.Petrusbrief - ob der von demselben Petrus ist, dem das Wasser zum Halse stand, weiß man nicht so genau, aber wir können das ja mal annehmen - heißt es:

Haltet in derselben Gesinnung zusammen und habt Mitgefühl füreinander!
Liebt euch gegenseitig als Brüder und Schwestern!
Seid gütig und zuvorkommend zueinander!
Vergeltet Böses nicht mit Bösem,
und gebt Beleidigungen nicht wieder zurück!
Im Gegenteil: segnet eure Beleidiger, denn Gott hat euch dazu berufen, seinen Segen zu empfangen.
Kehrt euch ab vom Bösen und tut das Gute.
Müht euch mit ganzer Kraft darum, mit allen Menschen in Frieden zu leben.

 

III - Netz

Knoten muss man üben, damit sie halten! Und in der Gemeinschaft der Christen üben wir einen neuen Umgang miteinander ein: damit die Gemeinschaft hält, damit der Anker, der Knoten zu Gott hält. Wir üben einen Umgang miteinander, der sich nicht von Angst leiten lässt. Der Angst, der andere will mich womöglich übervorteilen oder mir Böses antun. Angst ist immer die Ursache dafür die Konfliktspiralen hochzudrehen - das erleben wir im Kleinen oder auch im Großen, wie gerade in der Ukraine. Petrus aber ruft dazu auf, diese Spiralen der Angst und der Konflikte zu durchbrechen: Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Gebet Beleidigungen nicht wieder zurück, sondern segnet eure Beleidiger! 

Was für eine Herausforderung. Die Spirale der Konflikte zu durchbrechen, es anders machen, als es einem das Adrenalin, die Wut diktiert, oder auch einfach nur das Gefühl, im Recht zu sein. Anders handeln. Paradoxe Intervention. Segnen statt beleidigen. Trotzdem weiß ich doch nicht, wie das auch im Großen gehen soll. Oft bin ich hilflos und machtlos dem Bösen gegenüber.
Trotzdem und trotzdem und trotzdem knote ich weiter an der Hoffnung! Die Hoffnung auf Gott lässt mich immer weiter versuchen andere Lösungen zu suchen, lässt mich - hoffentlich öfter - das Gute tun und dabei in allem wissen: mit dem anderen Menschen meint Gott es doch genauso gut, wie mit mir! Wie kann ich ihm da Böses tun oder wünschen? Ich muss doch keine Angst mehr haben, denn ich bin von Gott gehalten. Der Knoten zu ihm ist fest und sicher! Und ich erfahre manchmal im Kleinen: So getragen ist es möglich und gut den ersten Schritt nach einem Streit zu tun. Es ist gut die Hand zu reichen und zu sagen: Vergib mir! Ein Neuanfang kann so möglich sein.
Und in Zeiten der Unsicherheit, des Sturms und der drohenden Hoffnungslosigkeit ist es gut, wenn mich andere neben mir an den Knoten erinnern oder mir neu zeigen, wie das geht: sich fest machen in Gott. Seinen Anker in den Himmel werfen.

 

IV - Zu guter Letzt

Ich brauche die Gemeinschaft der Christen. Immer wieder höre ich, wenn ich nachfrage, warum jemand aus der Kirche ausgetreten ist: Christ sein kann ich auch allein, dazu brauche ich die Kirche nicht. Wir hier in unseren Kirchenbezirk möchten dazu Rede und Antwort stehen, von dem erzählen, was uns trägt.
Darum haben wir eine kleine Liste von guten Gründen für die Mitgliedschaft in der Kirche erstellt:

Ich bin in der Kirche, ...

1. …weil Gott mein Hoffnungsanker ist:
Ich hoffe auf Gott, der mit dieser Welt noch nicht fertig ist. Mit dieser Hoffnung lasse ich mich nicht von Angst lähmen. Gott verspricht Liebe, Frieden, Gerechtigkeit und ewiges Leben für uns alle.

2.  …weil ich hier ablegen kann:
In den Wogen des Alltags kann ich mein Lebensboot ruhig schaukeln lassen. Ich komme zur Ruhe, kann Gottes Gegenwart spüren und mit Gott reden.

3.  …weil ich hier festmachen kann:
An wichtigen Stationen in meinem Leben, bei der Taufe, Konfirmation oder Heirat bekomme ich Gottes Segen zugesprochen. Die Sonn- und Feiertage geben mir Rhythmus und Tiefe: Weihnachten, Ostern, Erntedank.

4.  …weil ich hier Koordinaten für mein Leben finde:
Was Jesus gelebt und gesagt hat, bringt mich auf den Kurs von Friedfertigkeit, Mut zur Wahrheit, Liebe, Bewahrung der Schöpfung und Ehrfurcht vor dem Leben.

5. …weil ich kommen kann, wie ich bin:
Ich werde nicht be- oder verurteilt. Ich bin angenommen als wertvoller  Mensch mit meinen Gaben, Eigenheiten, Stärken und Schwächen.

6.  …weil niemand allein gelassen wird:
In der Kirche setze ich mich mit anderen für die Schwachen und Benachteiligten ein - in meiner Nachbarschaft und der ganzen Welt.

7.  …weil ich hier einen Hafen habe: 
Gemeinschaft und Zuhause kann ich in der Kirchengemeinde finden. Menschen jeden Alters sind zusammen, sehen und hören einander, feiern und reden über Gott und die Welt.

8.  …weil Vergebung mein Rettungsring ist:
Jesus zeigt, dass ich zu meinen Fehlern und Zweifeln stehen und anderen vergeben kann. Die Feier des Abendmahls und die Beichte befreien mich. Ich kann immer wieder neu anfangen.

9.  …weil ich hier eintauchen kann:
In alter und neuer Musik, Gesang und in der Kunst kann ich mich tragen lassen. Da ist ein Schatz des Glaubens und der Hoffnung vieler Generationen geborgen.

10. …weil ich Rückenwind bekomme:
Gottes Liebe umgibt mich, trägt mich und erfüllt mich. In der Kirche wird mir das zugesprochen. Daraus wird Kraft, Mut und Hoffnung für meinen Alltag und mein Leben.

11. …weil ich einen Kompass brauche:
In evangelischen Kitas, im Reli-Unterricht, in der Erwachsenenbildung, in Kreisen und in Predigten lerne ich die Bibel kritisch zu lesen und kann sie als lebendige Quelle des Glaubens entdecken.

12. …weil ich in Stürmen des Lebens einen Halt finde:
Wenn ich nicht mehr weiter weiß, haben Seelsorger*innen Zeit für mich. Was ich dort erzähle, bleibt dort. In der Trauer oder beim Verlust eines lieben Menschen sind andere für mich da.

 

Ich werfe meinen Anker in den Himmel und ich ziehe den Knoten fest. Stürme und Wellen können mich nicht mehr schrecken. Ich bin gehalten. Wir sind gehalten.

Amen

Es gilt das gesprochene Wort.

27.01.2023
Dekanin Regine Klusmann