Wir möchten so gerne leben

Evangelischer Rundfunkgottesdienst
Wir möchten so gerne leben
Gottesdienst aus der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg
19.04.2019 - 10:05
07.02.2019
Ulrike Trautwein
Über die Sendung

„Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen“ – schreibt Salomea Luft im April 1943 in einem Brief aus dem polnischen Ghetto an ihre Familie. Wenig später wird sie ermordet. Sie war die Großtante von Nur Ben Shalom, der heute als Musiker in Berlin lebt.

In diesem Jahr fällt das Datum des Karfreitags auf den Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto. So erklingen in diesem Gottesdienst Stimmen von heute und damals: Aus dem Ghetto und von Golgatha. Stimmen der Toten und der Überlebenden: Psalmen, Briefe, Lieder und Gebete. Sie begleiten uns durch die Zeit – damit unser Leben Antwort gibt.

Es musiziert ein Kammerensemble unter Ltg. von Nur Ben Shalom, an der Orgel Frank Schreiber. Die Predigt hält Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein, Liturgie: Superintendent Michael Raddatz.

 

Folgende Lieder werden im Gottesdienst gesungen:

O Traurigkeit, EG 80, 1-3

O Haupt voll Blut und Wunden, EG 85, 1,2,9

Korn, das in die Erde, EG 98, 1-3

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen

 

Liebe Gemeinde,

es ist nicht lange her, das Warschauer Ghetto. Nur 76 Jahre sind vergangen, seitdem die Menschen dort aufgestanden sind gegen ihre abscheulichen Unterdrücker, Peiniger und Mörder. Es ist nicht lange her mit all den Ghettos und ihren Grausamkeiten, mit den KZs, der brutalen Verfolgung und dem Versuch, das jüdische Volk auszurotten. Es ist nicht lange her, und noch leben Menschen, die das alles mit- und überlebt haben.

 

Für mich, eine Nachgeborene, bleibt die große Fassungslosigkeit über diese alles übersteigende Grausamkeit und den Völkermord, der in deutschem Namen kaltblütig geplant und durchgeführt wurde. Und es bleibt die große Frage: Wie konnten Menschen, ja Christenmenschen, denen die Leidensgeschichte ihres Messias Jesus quasi in die DNA ihres Glaubens eingeschrieben ist, wie konnten Christenmenschen einstimmen, mitmachen bei der grausamen Verfolgung und Tötung der Juden: Ihrer Nachbarn und Mitmenschen, ihrer Menschen-Geschwister? Wie konnte es dazu kommen, dass Täter und Mitwisser sich selber so entmenschlicht haben? Wo warst Du, Mensch?

 

Geschichten von Schrecken und Finsternis durchziehen unsere Zeit. Der Massenmord an unseren jüdischen Geschwistern gehört zu den finstersten. Und über allem Grauen schwebt die eine Frage. Sie erklingt auch am Kreuz. Sie quält unsere Herzen: Wo bist Du, Gott?

Wenn überhaupt, dann haben wir darauf nur eine zaghafte, tastende Antwort: Wir schauen auf den Weg des Gottessohns und ahnen: Nur dort kann Gott sein, wo Menschen Schreckliches erleiden, wo Verzweiflung, Angst und Einsamkeit ihr Herz auffressen und der Tod ihr Leben zerreißt.

 

So ist es am Karfreitag. Der Evangelist Matthäus berichtet davon, fasst die Angst in dieses Bild:

Großer Welten-Schmerz zerreißt den Vorhang zum Allerheiligsten, zum Gottes-Ort in der Welt, zum Tempel in Jerusalem. Alles verliert seinen Halt, die Erde gerät außer Fassung, der Boden unter unseren Füßen schwindet.

 

Und über allem dieser Ruf, der nachhallt:

Eli, Eli lama asavtani – mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Gottes Mensch ist grausam gequält und ermordet worden.

Nicht Totenstille, nein: Ein mächtiger, ein umstürzlerischer Moment folgt diesem Tod auf Golgatha. Schmerz, Wut, Verzweiflung – existentielle Gefühle brechen sich Bahn in diesem Moment, wo das Leben verloren ist.

Rache ist ein mächtiges, ein umstürzlerisches Gefühl, es lässt einen Menschen bis in die Tiefen seiner Existenz erbeben: Wenn das Gute im Leben keinen Halt mehr gibt, weil das Schreckliche, das Menschen anderen Menschen antun, alles verschlingt. Dann wächst aus dem Grauen das elementare Bedürfnis nach Rache. Weil sonst nichts bleibt. Wir möchten so gerne leben. Möchten die Rache sehen für so viele Millionen Opfer, für so viel unermessliches Leid- schreibt die junge Frau, Salomea, die Großtante von Nur Ben Shalom.

 

In unseren christlichen Lebenszusammenhängen sind wir es nicht gewohnt, diesem dunklen Gefühl der Rache nachzugehen, tun uns schwer, ihm Raum zu geben in unserem Denken und Fühlen. Doch um unsere Rachegelüste geht es nicht. Auch wenn jeder von uns dieses Gefühl schon einmal erlebt hat, auch wenn er nicht gern darüber spricht. Salomea tut es. Und das ist erschreckend. Auch 76 Jahre später noch. Weil sie ja Recht hat mit diesem letzten Wunsch. Wer will es ihr verwehren? Wer kann es ihr nehmen? Nachdem ihr alles genommen wurde. „Wenn Ihr könnt, nehmt Rache!“ – das sind die letzten Worte Salomeas an ihre Angehörigen. Wenn ihr könnt… Und auch diese Worte stehen heute hier im Raum. Wie ein Riss gehen sie mitten ins Herz. Mitten durch uns. Sie klingen wie damals, als der Vorhang im Tempel zerriss – scharf und schneidend.

 

In der Bibel hat die Rache durchaus Raum, wird nicht verschwiegen, nicht unterdrückt. Dort rufen verletzte und verstörte Menschen laut nach Rache und bitten Gott, sie mit diesem Wunsch nicht alleine zu lassen: Das Unglück, über das meine Feinde beraten, komme über sie selber – heißt es in Psalm 140 – und weiter: Er möge feurige Kohlen über sie schütten…

Allerdings wird die Rache in der Bibel nicht in erster Linie als starkes Gefühl verstanden, sondern hier geht es zuerst um Recht und Gerechtigkeit. Dieses Rachebedürfnis in der Bibel zielt auf Ausgleich: Wer etwas Schlimmes getan hat, muss dafür bezahlen. Das hebräische Wort für bezahlen heißt meschalem und darin wiederum steckt das Wort Schalom: Frieden!

Um Frieden zu gewinnen, muss für das böse Tun bezahlt, muss ein Ausgleich geschaffen werden. Ein nüchterner, aber notwendiger Blick auf die Rache. Wenn wir diesem Ausgleich nicht nachgehen, wenn all die verletzten Gefühle und zerstörten Leben nicht Raum bekommen, kein Gehör finden, keine Erinnerung, dann entgrenzt sich die Rache und entwickelt eine schreckliche Kraft. Untergründig wirkt sie weiter und ihr Werk wird umso andauernder und zerstörerischer.

Ich höre die Worte, die Salomea, diese junge Frau, vor 76 Jahren aufgeschrieben hat. Ich höre über die Zeit hinweg, was sie uns erzählen muss von diesem überhaupt nicht ermessbaren Leiden. Und ich verstehe, dass die Gedanken an Rache ihr zu einer Art Hoffnungsfunken werden, zum Hoffnungsfunken auf Gerechtigkeit – eines Tages. Lange nach ihr. Die Gedanken daran geben ihr die Kraft, in den Rachen des Todes zu schauen und aufrecht in dieser Hölle zu bleiben. Auch wenn sie weiß, dass es für dieses Entsetzen gar keine auch nur annähernd angemessene Form von Rache oder gar Ausgleich geben kann.

Dennoch trägt sie, Salomea, in sich nach wie vor den Keim einer Hoffnung auf Gerechtigkeit, die kommen wird. Und damit verbindet sie sich mit ihren Teueren – wie sie schreibt, mit ihren Liebsten. Sie baut darauf, dass denen, die nachkommen, das erlittene Grauen ans Herz gehen und ihnen am Gemüt rütteln wird, dass ihren Nachkommen Gerechtigkeit widerfahren wird und, dass sie selbst, Salomea, auf diese Weise verbunden bleibt mit dem Leben. Und so ist es ja auch, ihre Botschaft lebt, wurde sorgsam verwahrt, wurde und wird weitergegeben in der Familie und heute auch an uns.

Was für eine Gnade, heute zusammen sein zu dürfen und gemeinsam zu hören, hier in der Kirche – miteinander: Die Kinder und Kindeskinder der Menschen, die damals Unbeschreibliches erlitten haben und die Kinder und Kindeskinder der Menschen, die das schreckliche Tun erst erdacht, dann geplant, in Gang gesetzt, nicht verhindert und getan haben. Wir hören gemeinsam auf Salomeas Worte und die Musik ihres Großneffen Nur Ben Shalom. Und der schmerzliche Riss, der an diesem Tag durch den Vorhang geht, er wird zusammengefügt. Nicht geheilt, aber zusammengefügt.

 

Was für eine Gnade, dass uns der Wunsch nach Rache, der Salomea die Kraft gegeben hat, aufrecht menschlich zu bleiben, dass dieser Wunsch uns heute zusammenführt.

Und wir ihrer Stimme Raum geben und auf sie hören. Die Rache hat sich verwandeln dürfen. „Wenn ihr könnt, nehmt Rache,“ schrieb sie – und im gemeinsamen Hören spüren wir: Wir können nicht mehr – wir wollen uns nicht hassen.

Unser christlicher Glaube sagt uns: Alle Gewalt endet am Kreuz! Am Kreuz endet alle Gewalt!

Es bleibt schwer, das an diesem Tag zu sagen, an dem wir der tiefsten Finsternis menschlicher Grausamkeit gedenken, Grausamkeit, von unseren christlichen Vorfahren begangen. Sie haben den Juden Jesus, den Gottes-Mensch verraten und haben nicht daran geglaubt, dass alle Gewalt am Kreuz endet.

Mögen wir es verstehen: endlich!!! Und verstehen, dass Gott auch dort bleibt, wo es nicht mehr zum Aushalten ist.

Nicht an der Seite der Tyrannen, sondern der Verlorenen der Geschichte steht Gott, auf den wir trauen.

Für mich ist es ein großes Wunder, dass dieser Brief heute gehört wird, 76 Jahre später von uns hier in der Kirche und von Ihnen, die Sie diesen Gottesdienst zuhause oder unterwegs mit uns feiern. Für mich ist es ein Wunder, dass diese Worte öffentlich werden in unserem Land Deutschland. Beim Hören vergegenwärtigen wir, was geschehen ist. So wie es jüdische Tradition war und ist, sich immer wieder die Geschichte des jüdischen Volkes zu vergegenwärtigen und sich in sie hineinzustellen.

Und entgegen aller Todesabgründe, von denen uns die Geschichte von Jesus am Kreuz erzählt, entgegen allem Grauen, was Menschen Menschen durch die Geschichte hindurch angetan haben, entgegen allen Versuchen, das jüdische Volk zu vernichten, ja, entgegen aller Todesabgründe glauben wir, dass Gott bei uns ist und in unserer Mitmenschlichkeit lebendig wird.

Das größte Wunder für mich ist, dass Nur Ben Shalom diesen gemeinsamen Gottesdienst heute als Antwort an seine Großtante sieht. Er sagt es so:

Ich antworte meiner Großtante mit der Musik: Mit der Botschaft, dass der Glaube an die Mitmenschlichkeit nicht aufhört. Ich glaube, so lautet der Titel des folgenden Liedes: I believe, Ani maamin.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

07.02.2019
Ulrike Trautwein