Aufrichten

Morgenandacht
Aufrichten
12.01.2016 - 06:35
27.12.2015
Ulrike Greim

Aufrichtekraft. Er musste zweimal hinhören, bis er es verstand: Aufrichtekraft. Der Arzt hatte ihm dieses Wort gesagt. Das sei es, was zum Beispiel ein Weizenkorn besitzt. Wenn es in die Erde kommt, wächst daraus ein Halm, der es schafft, in erstaunliche Höhen zu wachsen, ohne umzuknicken. Und das nicht genug: Er kann in höchsten Höhen Körner produzieren. Er hält am Ende bis zu dem Zehnfachen des Gewichtes seines Halmes. Er hat die Kraft, sich aufzurichten und aufrecht zu bleiben, selbst unter extremer Belastung.

Er staunte. Das Zehnfache des eigenen Körpergewichtes – wer wollte das auf dem Kopf tragen? Die afrikanischen Frauen vielleicht,  mit den bunten Riesenbündeln auf dem Kopf. Aber so stark wie ein Weizenkorn können sie sicher auch nicht sein. Und er mit seinem Rücken – Himmel hilf!

Aufrichtekraft. Es war dieses Wort seines Arztes, das ihn von da an beschäftigt hat. An der aufrechten Haltung hängt alles, hatte der gesagt: Atmung, Verdauung, der freie Blick, die Art zu gehen, zu stehen, zu sitzen, die Ausstrahlung. Ein langer Lernweg für alle Gebeugten. Für alle mit Rückenschmerzen – wie ihn.

Aufrichtekraft wurde für ihn das Wort des Jahres.

Im Kalender las er, dass heute wieder das Unwort des Jahres gekürt wird. Er will lieber ein Wort im Ohr haben, das ihn weiterbringt.

Das Aufrichten. Es ist ein Prozess der Menschwerdung.

Für ihn: eine Lebensaufgabe.

Er stöbert im Bücherregal. Irgendwo hatte er doch da ein Buch. Genau. Da ist es. Es geht um den heiligen Augustinus. Er spricht von der Incurvatio hominis in seipsum, die Verkrümmung des Menschen in sich selbst. Für Augustinus ist dies die Definition von Sünde.

Na klasse, denkt er. Nun auch noch sündig. Wobei: Augustinus wertet ja nicht. Er beschreibt ein Krankheitsbild.

Gesund heißt: ich bin aufrecht, ich sehe nicht nur mich.

Abends diskutiert er mit seinem Freund, dass manche Pegida-Demonstrierer doch genau das für sich in Anspruch nehmen: sich aufzurichten. Im Sinne von ‚Jetzt sag ich endlich auch mal was, 25 Jahre habe ich mich krumm gemacht und alles hingenommen, jetzt wird es Zeit, sich aufzurichten. Wir sind das Volk.’

Aber auch die Islamisten meinen, sich aufzurichten für ihre Sache. Für die Sache des von ihnen so verstandenen Gottes.

Der Freund widerspricht nicht. Sagt aber, dies sei nicht ein Aufrichten, sondern ein Erstarken. Laut sein. Ein Aufrichten würde nämlich bedeuten, die anderen mitzukriegen. Sie wahrnehmen zu können.

Wer gekrümmt ist, sieht den Fußboden oder den eigenen Bauchnabel. Erst das Aufrichten ermöglicht, dass der Blick frei wird und zum Horizont wandern darf.

Er lehnt sich zurück. Wann hatte er das letzte Mal Lust, zu schauen, was jenseits des Horizontes ist? Wann wollte er loslaufen, wie er es als Kind gern getan hat? Wann hat er das letzte Mal in den Himmel geschaut?

Bin ich in mich selbst verkrümmt?

Wenn ja – wie werde ich wieder gerade?

Der Freund erzählt die Geschichte von der gekrümmten Frau. Lukas berichtet sie, der Arzt und Evangelist. Es heißt, sie sei von einem bösen Geist besessen (Lk 13). Und Jesus hat ihr keine Physiotherapie verordnet, sondern ihr gesagt, dass ihre Sünden vergeben sind.

Er schaut den Freund ratlos an und zieht eine Augenbraue hoch.

„Der krumme Rücken ist eine alte Verstrickung. Jesus nimmt den Menschen ernst. Und zerschneidet das alte Band. Die Frau ist frei.“ Sagt der Freund.

Sie kommen im Gespräch auf Kriegskinder und -enkel. Und wie die Taten der Großväter auf ihnen lasten. Auch unausgesprochene. Gerade die. Und wie lang der Weg ist, solche Familiengeschichten zu heilen.

Zum Geradewerden gehört der Kontakt zur eigenen Familie. Der gute Kontakt zu sich selbst. Und der zu Gott.

Es wird ein langer Abend.

Am nächsten Morgen entscheidet er sich für die Physiotherapie. Aber er weiß, dass die Kraft, sich aufzurichten, von weiter innen kommt. Wenn sie denn gelöst ist. Aber da will er gerne hinschauen.

27.12.2015
Ulrike Greim