Was hat Jesus wirklich gesagt?

Morgenandacht
Was hat Jesus wirklich gesagt?
über Hermeneutik
16.10.2019 - 06:35
18.07.2019
Anja Neu-Illg
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Mein Physiotherapeut hat sich jetzt ein Buch gekauft, in dem die wenigen Sätze stehen, die Jesus wirklich so gesagt hat. Sagt er. Das gefällt ihm. Da hat man dann gleich das Original ohne die ganzen Verfälschungen und Zusätze.

Den Wunsch, eine Sammlung mit Original-Jesusworten in der Hand zu halten, kann ich absolut nachvollziehen. In Zeiten von Fake News, wo man nicht mal sicher sein kann, ob eine Person, die in einem Video spricht, diese Worte wirklich so gesagt hat. Und ein nicht angegebenes Zitat in einer Doktorarbeit ernste Konsequenzen für die Politik-Karriere hat. Das Echte. Das Wahre. Das Original. Das verkauft sich bestimmt gut.

Doch soweit mir bekannt ist, stammen die ältesten Bibeltextfragmente, die wir haben, aus dem 4. Jahrhundert. Übersetzungen und Abschriften. Also Abschriften von Abschriften von Übersetzungen von Übersetzungen. Originale aus der Zeit Jesu haben wir nicht. Jesus selbst hat nicht geschrieben, außer einmal mit dem Finger im Sand. Es hat auch niemand mit dem Laptop am Fuß des Berges gesessen, als Jesus die Bergpredigt gehalten hat.

Erzählt hat man sich Jesu Worte und Taten. Und erst viel später haben die Evangelisten aus Erzählungen und einzelnen Aufzeichnungen rekonstruiert, was es auf sich hatte mit der Geburt, dem Leben, dem Sterben und der Auferstehung Jesu. Und welche Bedeutung das für die Welt hatte. Das älteste Evangelium, das Markusevangelium, ist erst 40 Jahre nach dem Tod von Jesus entstanden. 40 Jahre. Das ist eine lange Zeit. Und jeder, der auch nur seine eigene Biographie schreibt und zurückblickt, weiß, dass manches vergessen ist – und auch das, woran man sich erinnert, kann man nicht mehr vollständig wiedergeben. Man muss auswählen. Und konstruiert eine Geschichte, von der aus die Entwicklung zu der Person, die man heute ist, plausibel erscheint.

Der Evangelist Johannes berichtet selbst davon, dass er eine Auswahl treffen musste: Er schreibt: „Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“ (Johannes 21,25)

Und dann gab es da von Anfang an ein Übersetzungsproblem. Denn die Evangelisten haben ihre Bücher auf Griechisch geschrieben, aber Jesus hat Aramäisch gesprochen. Denk- und Sprachwelten, so weit voneinander entfernt wie heute Arabisch und Deutsch. Die Bibel, die wir heute haben, ist – genau genommen – eine Übersetzung einer Übersetzung von einer Abschrift einer Abschrift einer Rekonstruktion aus Erzählungen und Notizen aus einer weit entfernten Gegend und einer fernen Zeit.

Aber einfach irgendein Buch, ein Stück Literatur, wie jede andere Literatur auch, ist die Bibel für mich trotzdem nicht. Ich mache nur ihren Wert nicht am „Originalzustand“ fest, sondern an ihrer Kraft. Für mich ist also nicht die Frage: Hat Jesus das genau so gesagt, sondern: Haben diese Worte Kraft zum Leben? Helfen diese Worte zu vertrauen? Führen sie in die Freiheit? Ändern sie etwas im Leben eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft?

Und das ist schon erstaunlich für mich, mit wieviel Kraft die Jesusworte bei ihren Leserinnen und Lesern immer wieder ankommen. So erstaunlich, dass ich so weit gehe zu sagen: Das Menschliche an der Bibel, das Unvollständige, das Unvollkommene, das Fehlerhafte und Widersprüchliche ist geradezu erwünscht. Wenn es Gott um ein unverfälschtes „Original“ gegangen wäre, hätte er auch ein Buch vom Himmel werfen können.

Stattdessen schickt er seinen Sohn. Und der sagt nicht nur die Wahrheit, sondern der ist die Wahrheit. Diese Person, Jesus, ist stärker als die Tradition, stärker als die menschlichen Fehler und Macken in den Bibeltexten. Mit ihm bekommen wir es zu tun, wenn wir die Bibel lesen. Erstaunlich, wieviel Kraft seine erinnerten, rekonstruierten, übersetzten und abgeschriebenen Worte heute immer noch haben. Das Original ist eben kein Text, sondern eine Person.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

18.07.2019
Anja Neu-Illg