Sibylle

Wort zum Tage
Sibylle
16.08.2019 - 06:20
13.06.2019
Barbara Manterfeld-Wormit
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Es gibt nur wenige, denen rosa wirklich steht. Kleine Mädchen und alte Damen können rosa tragen – so heißt es. Sibylle gehört zur zweiten Gruppe. Auf dem Foto ist sie 92 Jahre alt. Sie sitzt da in einem großen Polstersessel, die Beine vornehm zur Seite geschlagen – die Hände lässig auf Lehne und Knie. Sie trägt rosa: ein üppiges Kostüm aus schwerem Samt – rosa mit rosafarbenem Halstuch. Das gesamte Setting um sie herum ist königlich: der Bilderrahmen an der Wand aus Gold – in der Vase auf dem Bord daneben stehen Tulpen – rosa natürlich. Das Foto ist ein wahres Kunstwerk – und die Frau darauf eine wahre Künstlerin.

 

Sibylle Gerstner trägt vor der Kamera Haute Couture von 1942. Da war sie gerade als sogenannte Halbjüdin in Paris untergetaucht. Sie studierte dort Malerei. Nach Kriegsende zieht sie mit ihrem Mann in den Osten – erst nach Zeuthen, dann nach Kleinmachnow bei Berlin. Sie arbeitet als freie Kostümbildnerin bei der DEFA, bis man sie mit einem großen Projekt betraut: Sie soll ein Konzept für eine neue Modezeitschrift entwerfen. Drei Jahre lang wird sie die redaktionell leiten: die „Vogue des Ostens“ – das Pendant zur Brigitte im Westen trug ihren Namen: „Sibylle“ – und behielt ihn auch nach dem Ausscheiden von Sibylle Gerstner als Kreativdirektorin. „Zu französisch für den Sozialismus“, hatte man ihr damals vorgeworfen. In Berlin war in diesem Sommer eine Fotoausstellung der Zeitschrift zu sehen. Beeindruckende Fotos – ein Stück Geschichte. Prominente Frauen wie die Schauspielerinnen Katharina Thalbach oder Claudia Michelsen präsentieren Mode der damaligen Zeit – auf der Straße zwischen Werktätigen oder nachts im kleinen Schwarzen an der Dönerbude. Die „Sibylle“ machte den DDR-Alltag bunt, ein Stückchen weltoffen und freizügig.

 

In ihrer Schulzeit während des dritten Reiches setzte man Sibylle Gerstner aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in die letzte Reihe. Als sie damals einen Aufsatz über Jesus schreiben sollte, schrieb sie, er sei zur Hälfte Jude gewesen. Seine Mutter war Jüdin – der Vater Gott. „Ich war ja auch „halb“, erzählt sie in einem Interview. Ob sie an Gott glaube? Ihre Antwort: „Ich kann es nicht, aber es gibt weder einen Beweis für noch wider ihn.“ In den 60er Jahren veröffentlichte sie ein Buch unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius. Sein Titel: „Flucht in die Wolken.“ Das Buch handelt von ihrer Tochter, die an einer Psychose litt und sich das Leben nahm.

„Verstehst du die Welt manchmal eigentlich nicht mehr?“ lautet die letzte Frage in dem Interview –

„Verstehen ja. Aber nicht billigen.“

 

Sibylle Gerstner. Eine starke Frau in Rosa. Sie starb 2016 im Alter von 96 Jahren in Berlin. Morgen hätte sie Geburtstag gehabt.

 

(zit. nach: Sibylle Gerstner – 95 Jahre Leben. https://www.fraeulein-magazine.eu/sibylle-boden-gerstner-95-jahre-leben)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Barbara Manterfeld-Wormit