Traumdeuter

Wort zum Tage
Traumdeuter
08.05.2021 - 06:20
29.04.2021
Lukas Pellio
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Traumdeuter. Zur Zeit Nebukadnezzars, des legendären babylonischen Königs, ist das einer der gefährlichsten Berufe überhaupt. Denn eine nicht genehme Deutung kann den Tod nach sich ziehen. Daniel ist so ein Traumdeuter. Mit vielen anderen war er nach der Zerstörung Jerusa-lems 601 vor Christus nach Babel verschleppt worden. 
Eines Nachts ereilt den Herrscher ein fürchterlicher Traum. Der Ernstfall für alle Traumdeuter. Der König hat von einer riesigen Statue geträumt. 
„Ihr Haupt war aus edlem Gold, ihre Brüste und Arme aus Silber, ihr Rumpf und ihre Hüften aus Bronze, ihre Schenkel aus Eisen und ihre Füße halb aus Eisen und halb aus Ton.“ 
Der König war geschmeichelt und konnte sich nicht sattsehen, denn offensichtlich zeigte sein Traum die eigene Macht. Ein riesiges strahlendes Denkmal für den Herrscher. Doch der Traum ging weiter.
Und „ein Stein löste sich und schlug der Statue auf ihre eisernen und tönernen Füße und zer-störte sie. So wurden auf einen Schlag Eisen, Ton, Bronze, Silber und Gold zerstört. Sie wur-den wie Spreu auf den Tennen im Sommer. Wind erfasste sie, und keine Spur davon blieb üb-rig.“
Verständlicherweise gerät Nebukadnezzar in große Angst und reihenweise Traumdeuter finden den Tod, weil sie das Offensichtliche aussprechen: Keine Herrschaft dauert ewig und auch die mächtigsten Herrscher werden vergehen. Egal ob sie Nebukadnezzar heißen oder ob sie ein 1000-jähriges Reich ausrufen. 
Eine missliche Lage für den Traumdeuter. Aber Daniel ist gewitzt. Seine Lösung. Er verlagert die Deutung in eine ferne Zukunft. Nebukadnezzar sei das Haupt aus Gold und nach ihm wer-den andere Herrscher kommen. Keiner aber mit einer Macht wie er, sondern alle jeweils mit nachlassender Macht. Symbolisiert durch die absteigende Reihenfolge: Silber, Bronze, Eisen und schließlich die Füße aus Ton.
Nebukadnezzar ist wieder zufrieden und sehr geschmeichelt. Als Reaktion auf den Traum und seine Deutung baut er tatsächlich eine riesige goldene Statue von sich selbst. 
Ich stelle mir vor, wie er sie einweiht und dazu seinen Traum erzählt. Wie er von der riesigen Statue mit goldenem Kopf erzählt, die auf tönernen Füßen steht. Ich stelle mir vor, wie Daniel und seine Freunde reich beschenkt im Publikum stehen und ihr Lachen kaum unterdrücken können. Sie haben den großen König Nebukadnezzar tatsächlich dazu gebracht, öffentlich die Zerbrechlichkeit seiner und jeder menschlichen Herrschaft zu verkünden. Die Macht steht auf tönernen Füßen. Alle können es sehen und hören – alle außer Nebukadnezzar.
 

Es gilt das gesprochene Wort.

29.04.2021
Lukas Pellio