Verwundbar

Wort zum Tage
Verwundbar
19.12.2018 - 06:20
07.09.2018
Florian Ihsen
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Ein Nachmittag in der Woche vor Weihnachten 2016. Ich erinnere mich gut:

Die Kerzen an meinem Adventskranz brennen, alle vier. Ich sitze im Wohnzimmer und schreibe Weihnachtskarten. Manfred, mein bester Freund, hat vor Weihnachten ein paar Tage frei und ist in Berlin. Er schickt mir fast täglich Bilder. Und schreibt heute: „Ich geh um 18 Uhr in die Gedächtniskirche zum Abendgebet und danach auf den Weihnachtsmarkt dort. Soll schön sein.“

Ich antworte nicht mehr, hab zu tun, will fertig werden.

Gegen 9 Uhr abends höre ich Nachrichten und erfahre: Ein LKW ist genau in diesen Weihnachtsmarkt hineingerast. Ich greife zum Smartphone. Panisch. Rasch bekomme ich Nachricht. Manfred ist um 8 gegangen. Kurz davor. Und auf Facebook sehe ich auch schnell Nachrichten von Berliner Freunden, die in Sicherheit sind. Von vielen, aber nicht von allen. So verbringe ich den Abend zwischen Nachrichten hören, simsen, telefonieren. Wer weiß was? Wer hat wen wo in Sicherheit geortet? Gegen Mitternacht habe ich Gewissheit: Von denen, die ich in Berlin kenne, ist niemandem etwas passiert.

 

Die Bilanz hinterher ist trotzdem schlimm: 12 Tote, 55 Verletzte und Schwerverletzte und unter den Helfern über 90, die seitdem an einem Trauma leiden.

 

Ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt neben einer Kirche. Das hat ins Herz getroffen. Ins Herz der Opfer und der Hinterbliebenen. Er hat auch das Herz einer Kultur getroffen, die ihre wichtigste gemeinsame Festzeit begeht: Advent und Weihnachten. Er trifft auch mitten in das Herz der Kirche. Denn Weihnachten, das Fest auf das wir uns im Dezember vorbereiten, ist das christliche Herz, das große Christusfest: Gott wird Mensch. Gott kommt auf die Welt. Und Engel verkünden „Friede(n) auf Erden“. Gott kommt in einem verletzlichen Menschen, der am Ende sterben wird, weil er für Frieden und Heil für alle Menschen eintritt. Friedensbringer, Lamm Gottes – mit Namen der Verletzlichkeit wird Christus angerufen und besungen. Christus bringt Frieden, indem er sich verwunden lässt.

 

Heute, genau zwei Jahre nach diesem Anschlag, sagt mir die Erinnerung: Ich bin verwundbar. Unsere Kultur ist verwundbar. Und: Der Ewige und Heilige selbst ist verwundbar geworden. Gott verwundbar, damit unsere Wunden heilen können, die Wunden der Welt – und, wer weiß, vielleicht auch die seelischen Wunden und Störungen von Gewalttätern.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.09.2018
Florian Ihsen