Das verlorene Gericht

Am Sonntagmorgen

Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis als Kranker, 1918/30

Das verlorene Gericht
Von der Notwendigkeit, die Wiederkehr Christi neu zu entdecken
13.11.2016 - 08:35
04.07.2016
Pfarrer Dietrich Heyde
Über die Sendung

Über den Verlust des Credostücks von Jesu Wiederkehr zum Gericht  und von der Notwendigkeit, es wieder zu gewinnen. „Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten“ –  wer glaubt noch daran? Wer nimmt diese wichtige Dimension des Glaubens wirklich ernst? Was bedeutet dieser Glaubensartikel für christliches Handeln? Und wie können Christen diese verlorene Dimension wieder zurückgewinnen?

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Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker berichtet einmal von einem Gespräch mit dem Schweizer Theologen Karl Barth. Unter dem Eindruck der Erfindung der Atombombe fragte er Barth, ob er denn jetzt noch weiter Physik treiben dürfe. Darauf antwortete ihm Barth:

 

„Herr von Weizsäcker, wenn Sie glauben, was alle Christen bekennen und fast keiner wirklich glaubt, nämlich dass Christus wiederkommt, dann dürfen und sollen Sie weiter Physik machen, sonst nicht.“

 

Von Weizsäckers Frage zielt auf das rechte und verantwortliche Tun. Darf man angesichts der Erfindung der Atombombe noch Physiker sein? Ist das ethisch zu verantworten? Es ist bezeichnend, dass Barth nicht einfach antwortet – ja, man dürfe, oder, nein, man dürfe nicht. Er tut etwas Wirksameres. Er gibt von Weizsäcker ein Kriterium für verantwortliches Tun an die Hand: Er erinnert an die Wiederkunft Christi.

Dies musste den Physiker natürlich zutiefst überraschen. Nichts scheint dem modernen Bewusstsein ferner zu liegen als die Wiederkunft Christi. Jedoch – es gibt eine Begründung christlichen Handelns von dieser Zukunft her. Und hier lautet die entscheidende Frage: Hält das, was der Mensch will und tut vor dem stand, „der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“?

Dass die Wiederkunft Christi für Christinnen und Christen heute kaum noch eine Rolle spielt, jedenfalls keine Lebensgestaltende, ist ein Verlust, der zutiefst beunruhigen müsste. Denn nichts stellt den Menschen so radikal in die Verantwortung, wie der Glaube, dass er einmal Rechenschaft ablegen muss über sein Tun und Lassen. Es gibt keinen Menschen, der an Gott vorbeikommt – weder im Guten noch im Bösen. Denn, so schreibt der Apostel Paulus:

 

„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“. (2.Korinther 5,10)

 

Das heißt, niemand ist vergessen und nichts ist vergessen. Wir hätten allen Grund, unser Gewissen zu schärfen und unser Handeln zu prüfen. Carl Friedrich von Weizsäcker berichtet, ihm sei Barths Wort, dass Christus wiederkommt, „in die Knochen gegangen“. Er habe sofort verstanden, dass hier der Nerv unseres Verhältnisses zur Geschichte getroffen sei; und daraus den Schluss gezogen:

 

„Eine Kirche, die nicht auf die Wiederkunft des Herrn wartet, hat den Kern ihres Wesens, ihrer Kraft aufgegeben.“

 

Wie Carl Friedrich von Weizsäcker hat auch der Philosoph Hans Blumenberg die große Bedeutung des Jüngsten Tages herausgestellt. In einem Essay mit der Überschrift „Gerichtsverlust“ erklärt er:

 

„Vielleicht ist von allen Verlusten, die mit der Entkräftung des Christentums einhergegangen sind, der des Credostücks von Jesu Wiederkehr zum Gericht über die Lebenden und die Toten der unersetzlichste.“ (1)

 

Wie konnte es dahin kommen, dass diese so bedeutsame Dimension der Zukunft fast gänzlich verloren ging? Es ist auf jeden Fall ein Verlust mit weit reichenden Folgen. Natürlich gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den Christen heute und der Urchristenheit. Die Urgemeinde lebte in der Naherwartung. Sie war überzeugt, dass noch zu ihren Lebzeiten der gekreuzigte, auferstandene und zum Himmel aufgefahrene Herr wiederkommen werde. Sie glaubte, das Ende von Zeit und Geschichte stünde unmittelbar bevor. Der Apostel Paulus hoffte, sie zu erleben. Doch die Naherwartung erfüllte sich nicht. Die Wiederkunft Christi blieb aus. Dies aber führte, soviel wir wissen, nicht zu einer Krise in der Kirche.

 

Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die primäre Frage ja nicht ist: Wie nah sieht man das Weltende? Sondern: Wie verhält man sich zu ihm? Entscheidend ist nicht eine bestimmte Zeitvorstellung vom Jüngsten Tag, sondern allein die Tatsache, dass er kommt und ich (wann auch immer) vor Gott Rechenschaft ablegen muss über mein Tun und Lassen.

 

Es ist der Verlust der Erwartung als solcher, der die Kirche schwächte und schwerwiegende Folgen hat. So kam den Christen in der Folgezeit mehr und mehr das Bewusstsein abhanden, zwischen den Zeiten zu leben, nämlich zwischen dem 1. Advent, dem Gekommensein Jesu, und dem 2. Advent, seinem Wiederkommen. Wo man nicht mehr mit einem Ende der Zeit rechnet, da ist die Gefahr natürlich viel größer, sich in der Welt einzurichten und ihr zu erliegen. Überdies hatte der Verlust der Erwartung der Wiederkunft Christi Folgen für das Verhältnis von Juden und Christen. Sie rückten dadurch viel weiter auseinander als nötig. Bekanntlich entzündete sich die Trennung von Juden und Christen an der Frage, ob Jesus von Nazareth der Messias Israels sei.

 

Der Haupteinwand der jüdischen Mehrheit bestand und besteht nach dem jüdischen Historiker Gershom Scholem in dem unterschiedlichen Verständnis von „Erlösung“. Er meint:

 

„Das Judentum hat stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, die sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte. Für das Christentum ist demgegenüber „Erlösung“ wesentlich ein Vorgang im geistigen Bereich, der sich in der Seele, in der Welt jedes Einzelnen abspielt und eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muss.“ (2)

 

Erst mit dem zweiten Kommen Jesu Christi, mit seiner Wiederkunft, erwarten auch die Christen „einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2.Petrus 3,13; Offenbarung 21,1), also die Veränderung der Welt im Sichtbaren. So gesehen sind Juden und Christen gleichermaßen Wartende: Die Juden warten auf den Kommenden, die Christen auf den Wiederkommenden. Mit der einseitigen Betonung des Gekommenenseins Christi und dem Verlust der Erwartung seiner Wiederkunft jedenfalls wurden die Leinen gekappt, die Juden und Christen als gemeinsam Wartende verbinden. Dies hatte zur Folge, dass die Christenheit ihre jüdische Wurzel aus dem Blick verlor oder verleugnete; was wiederum verheerende Folgen für die Juden hatte:

 

Die theologische Preisgabe des Judentums von Seiten der Kirche hat am Ende praktisch zur menschlichen Preisgabe der Juden geführt.

 

Verhängnisvoll aber nennt der Philosoph Blumenberg die Abschwächung der Gerichtsidee, weil damit die Gerechtigkeit unter Menschen und Völkern notwendig auf der Strecke bleiben muss. Das Gottesgericht rückte immer dichter an die Welt heran, bis es schließlich entfiel. Es wurde reduziert auf einen innerweltlichen Prozess. Die Weltgeschichte sei selbst das Weltgericht, wurde gesagt. Und an die Stelle des Richters am Jüngsten Tag rückte das Gewissen des Einzelnen. Das von der Vernunft bestimmte autonome Gewissen des Menschen sollte den himmlischen Richter ersetzen. Das Diesseits kommt ohne Jenseits aus, hieß es; der Mensch ohne Gott und sein Gericht. So argumentierte man seit der Aufklärung.

 

Natürlich ist es wichtig, das Gewissen zu schärfen. Dafür müsste tatsächlich alles getan werden – allein um der Verantwortung willen, die Menschen und Völker füreinander haben. Wir müssten es so intensiv und nachhaltig tun, als hingen das Gute und der Friede in der Welt nur vom Menschen ab, von den Entscheidungen seines Gewissens. Aber darf es an die Stelle dessen rücken, „der kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“, wie es im Glaubenbekenntnis der Kirche heißt? Was ist, wenn das Gewissen der Einzelnen versagt? Was ist, wenn es verführt, pervertiert und korrumpiert wird und nicht von der Vernunft bestimmt wird, sondern ideologisch besetzt ist von Mächten und Kräften, die eine vernunftgemäße Verantwortung für den Mitmenschen nicht zulassen?

 

Jede Abschwächung der Gerichtsidee am Ende der Weltzeit muss sich verhängnisvoll auswirken für die Opfer der Geschichte. Also für alle, die unter Unrecht und Ungerechtigkeiten gelitten haben, die terrorisiert wurden und zu Tode gekommen sind. Die Täter von Unrecht und Gewalttat dürften dann sicher sein, irgendwie doch davon zu kommen, ohne einmal zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und den Opfern und Märtyrern würde mit dem Jüngsten Tag die Quelle der Kraft, des Trostes und der Hoffnung entzogen, dass, wenn auch kein Mensch, so doch Gott für sie einsteht und ihnen am Ende Gerechtigkeit widerfährt.

 

Bevor Generalstaatsanwalt Gideon Hausner im Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961 sein dreitägiges Plädoyer schloss, zitierte er eine eigens für diesen Anlass hergestellte hebräische Übersetzung des Gedichts „Die letzte Epiphanie“ von Werner Bergengruen:

 

Ich hatte dies Land in mein Herz genommen.
Ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.
 

Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.
Ihr riefet den Schergen, ihr winktet dem Späher
Und meintet noch Gott einen Dienst zu tun.

 

Ich kam als Gefangener, als Tagelöhner,
verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.
Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.
Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt? (3)

 

Dass dieses Gedicht eine zeichenhafte Rolle im Eichmann-Prozess spielen konnte, ist bemerkenswert. Im Grunde hat Bergengruen dichterisch gestaltet, was Jesus im Gleichnis vom Endgericht so zusammenfasst:

 

„Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan; was ihr ihnen nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.“ (Matthäus 25,40)

 

Christus ist nicht nur in seinem Wort und heiligen Sakrament von Taufe und Abendmahl gegenwärtig. Er ist es auch im Menschen, in den „geringsten Menschenkindern“. Wenn Gott am Ende der Tage Rechenschaft verlangt und wissen will, ob wir Ihn wirklich geliebt haben, dann fragt er nicht uns, dann fragt er die geringsten Brüder und Schwestern – die Hungrigen und Durstigen, die Armen, die Kranken, die Gefangenen; die Flüchtlinge, die Verfolgten, die Asylsuchenden. Er fragt die Mitmenschen, die uns anbefohlen sind und für die wir Verantwortung tragen. Der Mensch selbst wird zum Sakrament, das heißt zum Ort, wo Gott sich finden lassen und gegenwärtig sein will. Man kann dem Menschen keine größere Würde geben, als es in diesem Wort Jesu geschieht.

 

Es gehört zu den skandalösen, beschämenden Tatsachen nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland, dass ein Großteil der Täter in der NS-Zeit nicht nur ungeschoren davon kam, sondern in ihre Berufe und Ämter zurückkehren konnte. Sie mussten hierzulande nicht fürchten, entlarvt und aufgedeckt zu werden. Niemand verlangte von ihnen Rechenschaft. Sie waren und blieben in ihrer Gesinnung Nazis und hatten alle Chancen, „in Ehren“ alt zu werden. Und als man in der BRD nach dem Eichmann-Prozess nicht mehr umhin konnte, die Täter schwerer Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen, da waren die Urteile für die damaligen Opfer, die Gerechtigkeit suchten und verlangten, nicht selten eine Ohrfeige.

 

Damit ist auch gesagt, dass ein innerweltliches Gerichtsurteil niemals das Gericht am Jüngsten Tag aufheben kann. Gott, der die ganze Wahrheit über uns Menschen kennt und am Ende der Tage aufdecken, aufrichten wird, führt ein anderes, besseres Buch als wir Menschen. Was aber würde es praktisch bedeuten, wenn wir den Jüngsten Tag ganz neu in den Focus unserer Aufmerksamkeit rücken?

 

Wir würden der Frage nach Gott in neuer Tiefe begegnen. Wir würden sie radikaler stellen. Eben in dem tiefen Wissen – an Gott kommt keiner vorbei. Jeder muss Rechenschaft ablegen. Wir würden begreifen, dass es bei der Frage nach Gott um den Menschen geht und um Gerechtigkeit hier auf der Erde. Und wir würden den biblischen Weg in die Verantwortung neu entdecken, der darin liegt, dass wir Gott antworten – auf die Frage:

 

„Adam, Mensch, wo bist du?“ (1.Mose 3,9)

 

Jede Zeit, jede Generation, jeder Mensch ist in dieser Frage beschlossen. Wenn wir ihr nicht ausweichen, sie in unserem Leben weder verkümmern noch verstummen lassen, uns also vor Gott nicht verstecken, sondern als Menschen vor Gott antworten – dann kommt es zur Verantwortung. Das deutsche Wort „Verantwortung“ ist geeignet, einen wichtigen biblischen Sachverhalt festzustellen. In „Verantwortung“ steckt das Wort „Antwort“. „Antworten“ aber kann ich nur da, wo ich gefragt werde. Gott fragt den Menschen nicht nur nach seiner Gottesbeziehung:

 

„Adam, wo bist du?“

 

Er fragt ihn auch nach seiner Beziehung zum Mitmenschen:

 

„Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ (1.Mose 4,9)

 

Wo sich der Mensch so von Gott gefragt sieht und mit seinem Tun und Lassen darauf antwortet, da kommt es zur Verantwortung. Nicht der von Gott losgelöste, autonome Mensch ist in biblischer Sicht das ethische Maß aller Dinge, sondern der nach dem Menschen fragende Gott. Und das Wissen um Ihn, um Seinen Willen und Sein Wort, bestimmt das Gewissen des Menschen. Der Philosoph Max Horkheimer bringt es auf den Punkt, wenn er sagt:

 

„Wo das Reden von Gott verstummt, geht auch die Ethik zugrunde.“

 

Das Geheimnis verantwortlichen Tuns ist der Glaube an die Wiederkunft Christi. Praktisch heißt das: Wir Menschen sollen in den geschichtlichen Herausforderungen um unsere Möglichkeiten und Freiheiten wissen. Ja, aber immer auch um unsere heilsamen Grenzen. Denn wo der Mensch um den Gott weiß, der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten, da wird es ihm schwer fallen, sich zu überheben und seine Grenzen zu überschreiten. Da wird er versuchen, so zu leben, wie er am Ende gelebt haben möchte.

 

 

Zitate:

(1) Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, Bibliothek Suhrkamp Bd. 965, 1987, S.65 (4 Zeilen)

(2) Gershom Scholem, Judaica, Bibliothek Suhrkamp 106, 1968, S. 7 f (12 Zeilen)

(3) Werner Bergengruen, Figur und Schatten, Gedichte, Nymphenburger Verlagshandlung (16 Zeilen)

04.07.2016
Pfarrer Dietrich Heyde