Jenseits der Superhelden

Berlinale - Symbolbild

epd-bild/Rolf Zoellner

Jenseits der Superhelden
die Berlinale und die evangelische Filmarbeit
11.02.2024 - 07:05
28.12.2023
Pfarrer Christian Engels

von Pfarrer Christian Engels

Über die Sendung:

Kinofilme haben ein feines Gespür dafür, was Menschen bewegt. Kein Wunder, dass sich die Kirche von Anfang an fürs Kino interessiert hat. Ein Kameraschwenk über die evangelische Filmarbeit.

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

 
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Ein Menschenaffe in prähistorischer Zeit schnappt sich einen Knochen, spielt mit ihm herum und schlägt schließlich auf ein Skelett ein. Er hat erkannt, was eine Waffe ist. Dann wirft der Affe den Knochen in den Himmel, und mit einem Schnitt hat sich der Knochen in ein Raumschiff verwandelt. Dazu erklingt „Also sprach Zarathustra“. Das ist eigentlich von Richard Strauss, aber die meisten denken dabei an Stanley Kubrick und seinen Film „2001: Odyssee im Weltraum“. In der Kombination mit den Bildern ist dieses Musikstück legendär geworden. Filme haben immer wieder so eine Macht: Sie schaffen Momente aus Bildern, Gesichtern, Musik und Dialogen, die sich einbrennen und die man nie vergisst.

Das wird auch wieder ab nächster Woche zu erleben sein, wenn am 15. Februar die 74. Internationalen Filmfestspiele beginnen, die Berlinale. Etwa 200 Filme aus der ganzen Welt werden in zahlreichen Programmen vorgestellt und viele Auszeichnungen werden verliehen, wie der Goldene Bär. Eine andere Auszeichnung ist die der Ökumenischen Jury. Vertreter*innen beider großer christlicher Konfessionen sehen über eine Woche lang viele verschiedene Filme und empfehlen am Ende einen Film ganz besonders. 2023 war das das mexikanische Drama „Totem“, das jetzt für einen Oscar nominiert ist. Wer von evangelischer Seite aus in der Jury sitzt, bestimmt Interfilm, die internationale Organisation für Kirche und Kino. Die Präsidentin ist die Theologin Julia Helmke. Sie erklärt, was Interfilm ist.

„Interfilm ist ein Teil evangelischer Filmarbeit, der sich vor allem mit dem zeitgenössischen Filmschaffen auseinandersetzt, an (…) Filmfestivals vor allem in Europa teilnimmt und dort Filme anschaut und auch auswählt, die eine Verbindung von herausragender ästhetischer, ethischer und auch transzendenter Dimension haben.“

Filme bieten jede Menge Stoff, der auch aus christlicher Perspektive faszinierend ist. Ein Meisterwerk wie Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ stellt zahlreiche Fragen, die auch für die Theologie und den Glauben spannend sind. Er fragt nach der Quelle der Kreativität im Menschen, nach den Grenzen des Wachstums, nach Erlösung und Erneuerung, nach einer Kosmologie. Und „2001“ inszeniert diese Themen in einer nach wie vor modernen, verstörenden und aufregenden Art und Weise. Es gibt viele solcher Beispiele. Die evangelische Filmarbeit beschäftigt sich mit ihnen. Interfilm ist ein wichtiger Teil davon. Das Interesse am Kino hat in den Kirchen eine lange Tradition. Schon sehr früh nach der Erfindung der bewegten Bilder auf der Leinwand war klar, wie viele Menschen man mit diesem neuen Medium erreichen kann. 1923 finanzierte die evangelische Kirche deshalb einen Spielfilm über Martin Luther, der als verschollen gilt. Der war nicht so erfolgreich wie Charlie Chaplin oder die Abenteuerfilme von Douglas Fairbanks, aber immerhin ein Versuch.

Richtig begann die evangelische Filmarbeit dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Im nationalsozialistischen Deutschland hatte die Ufa unter Joseph Goebbels und mit Filmen wie „Jud Süß“ gezeigt, wie leicht der Film Propaganda machen kann, wie er verfälscht, verzerrt und verführt. Und das sollte nie mehr möglich sein. Dafür war eine Institution wie Interfilm wichtig, die länderübergreifende Organisation für Kino und Kirche.

Ihre heutige Präsidentin Julia Helmke erzählt:

„Interfilm ist im Jahr 1955 gegründet worden, also als (…) sich Europa erst formierte und die Grenzen hochgezogen waren (…) und man wahrnahm, dass natürlich Film als Kommunikationsmedium und auch als Kunst Grenzen überschreitet. Und das wollte man nutzen und in Paris ist Interfilm gegründet worden mit Vertreterinnen und Vertretern aus verschiedenen Ländern und Deutschland durfte auch schon mit dabei sein. (…) Man wollte Film quasi kanalisieren und den guten Film (…) unterstützen, fördern, aber gerade dieses Grenzüberschreitende, was dem Film innewohnt, das wollte man eben auch für Europa umsetzen, und so ist das eines der ältesten europäischen, evangelischen und dann auch ökumenischen Netzwerke, die es überhaupt gibt.“

Evangelische Filmarbeit war also von Anfang an auch Friedensarbeit. Wie in anderen Ländern wurde in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Filmarbeit aufgebaut, mit der Auszeichnung „Film des Monats“, die 1951 gegründet wurde und bis heute monatlich vergeben wird. Der „Film des Monats“ wird von der Jury der evangelischen Filmarbeit ausgewählt. Vorsitzende der Jury ist Margrit Frölich. Sie erklärt, wer in der Jury ist.

 „Das ist eine relativ große Jury mit insgesamt sogar 16 Plätzen. (…) Und das hat auch einen Grund, dass die so groß ist, denn unsere Filmauswahl (…) die sichten wir in den Kinos und es findet immer eine lebendige Diskussion statt (…) Und in der Jury sind ganz viele Personen drin, die aus unterschiedlichen evangelischen Einrichtungen kommen, aber nicht nur (…) Ein Teil unserer Mitglieder kommt aus dem filmkulturellen Bereich.(…) (…) aus der evangelischen Jugendarbeit, wir haben auch Pfarrer, die in der Gemeinde mit Filmen arbeiten.“

Die Vielfalt in der Besetzung der Jury ist wichtig, um die Menschen zu erreichen, für die die Auszeichnung Film des Monats gedacht ist.

 „Alle, die das Kino lieben, (…), die sich auf substanzielle Weise unterhalten lassen wollen, also es ist nicht so, dass uns Unterhaltung unwichtig wäre. Aber es kommt uns auch natürlich auf die Substanz der Filme an, das heißt (…) an wen richten sich die Filme? Diejenigen die in der Filmbildung sich engagieren, also für die Film auch etwas wie Bildung ist.“

Unter den Filmen des Monats sind vor allem kleinere Arthouse- oder Autor*innen-Filme, die gestärkt werden sollen. Aber es sind auch Klassiker wie „Schindlers Liste“ oder „Easy Rider“ unter den Filmen des Monats, denn auch Hollywood-Filme wie diese lösen Fragen aus – und manchmal machen sie einfach Freude.

Jedes Jahr kommen in Deutschland etwa 600 Filme ins Kino, in jedem Genre, Kinderfilme, Dokumentationen, romantische Komödien, türkischsprachige Actionkracher, Bollywoodspektakel, Animationsfilme und natürlich die neuesten Teile der Sagas über Batman, Aquaman, Spider-Man, Wonder Woman und all die Comic-Superhelden, deren Abenteuer in den 70er und 80er Jahren von Kindern wie dem Sprecher dieser Zeilen verschlungen wurden. In den letzten Jahren haben diese Superhelden, vor allem die des Comic-Verlags Marvel, die Leinwände von Helsinki bis Sydney dominiert, auch wenn der Trend allmählich nachlässt.

In dieser Flut von neuen Filmen ist es praktisch unmöglich, den Überblick zu behalten und auch nur annähernd die wirklich interessanten Neuerscheinungen zu erwischen. Vor allem wenn man bedenkt, wie oft eine Deutsche oder ein Deutscher im Durchschnitt jedes Jahr ins Kino geht, nämlich 1,4 Mal. Heißt: Die meisten verpassen 598,6 Filme jedes Jahr. Deshalb ist eine Filmzeitschrift wie epd Film wichtig. Kinoliebhaber:innen erfahren über sie, was läuft, auch wenn sie nicht alles sehen. Seit 1984, also seit 40 Jahren, erscheint epd Film. Die verantwortliche Redakteurin ist Sabine Horst.

Sie hat vor kurzem bei einer Meinungsfrage erfahren, was die Leser*innen an epd Film schätzen.

 „Wir haben zum ersten Mal in unserer alljährlichen Leserumfrage auch die Frage gestellt: Warum lesen Sie epd Film? Und ich muss sagen, das war eine sehr angenehme Erfahrung, weil unsere Leser so schöne Sachen gesagt haben wie ‚epd Film ist das vielseitigste Filmmagazin im deutschsprachigen Raum‘. Sie haben uns bescheinigt, dass wir interessante Themen haben und Hintergrundberichte und Filmkritiken, auf die man sich verlassen kann, und dass wir inhaltlich enorm breit aufgestellt sind.“

Wofür sind Filmkritiken mit evangelischem Anstrich nötig? Will die Kirche vorschreiben, was sehenswert ist? Dazu Sabine Horst:

 „Die Zeiten, in denen kirchliche Institutionen aus ethischen oder religiösen Gründen dem Publikum sagen konnten: Wir raten ab, die sind einfach vorbei. Was wir aber mit der gesamten evangelischen Publizistik teilen, ist in einem allgemeineren Sinne das christlich-humanistische Menschenbild. Filme haben immer eine Haltung zur Welt. Auch die scheinbar dummen oder die ganz selbstverliebten oder die Hardcore-Genre-Filme. Und es ist eine Aufgabe des Kritikers oder der Kritikerin, diese Haltung herauszufinden und zu fragen: Wem wird hier eine Stimme gegeben, im besten evangelischen Sinn.“

Das Magazin epd Film beleuchtet alles, was man in neuerer Zeit Bewegtbild nennt, also nicht nur den klassischen Film im Kino. Aber genau darauf ist evangelische Filmarbeit sonst stark konzentriert, und es gibt gute Gründe dafür, wie Julia Helmke von Interfilm erklärt.

 „Filme sind fürs Kino gemacht. Das ist das Ideal. Ein Film hat drei Phasen: Der Film wird gemacht, ein Film wird angeschaut und über einen Film wird miteinander ins Gespräch gekommen. (…) Und das alles gehört quasi zusammen. (…) Und das, finde ich, ist das Tolle auch am Kino. Es ist ein gemeinschaftlicher Ort, und wir verlieren ja gerade immer mehr diese öffentlichen gemeinschaftlichen Orte und deshalb (…) hänge ich am Kino und kämpfe fürs Kino.“

Margrit Frölich vom „Film des Monats“ sieht es ähnlich.

 „Ich weiß auch, dass das Kino nicht mehr (…) die Massen anzieht wie in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts oder noch in den 60er Jahren, (…) wo lange Schlangen um die großen Kinos standen, das wird so nicht mehr kommen. Aber (…) was uns als evangelischer Filmjury wichtig ist, ist nicht alleine die Wahrnehmung, die im Kino eine besondere ist, sondern das Gespräch hinterher über den Film, also diese soziale Substanz, die im Kino oder durch das gemeinsame Sehen und das gemeinsame Reden über einen Film hinterher entsteht.“

Die soziale Substanz, die am gemeinschaftlichen Ort entsteht. Das verbindet, im besten Fall, das Kino und die Kirche. In beiden Gebäuden erleben Menschen etwas gemeinsam, in der Regel in einem abgeschlossenen Raum. Ein Kinofilm und ein Gottesdienst, beides sind Erlebnisse und laden dazu ein, miteinander ins Gespräch zu kommen und die Erfahrungen und Gefühle auszutauschen.

Dabei entdeckt man, dass es keine eindeutigen Antworten gibt. Was der eine über Glauben sagt, kann einen anderen überraschen, zum Beispiel dass jemand gleichzeitig an die Kraft von Bibelworten und an Horoskope glaubt. Und genauso kann es erstaunen, dass ein vernünftiger Mensch in einem südkoreanischen Monsterfilm so gerührt wird, dass er weint – was mir passiert ist. Jemand anderes lacht vielleicht im selben Moment. All diese Gefühle sind gleichberechtigt und die Zuschauer*innen können sich davon erzählen.

Die evangelische Filmarbeit fördert dieses Gespräch. Damit kann sie dazu beitragen, dass Menschen etwas über sich selbst und übereinander erfahren. Neben Friedensarbeit und Bildungsarbeit ist sie damit auch und vor allem Kulturarbeit.

Eine Sendung über die evangelische Filmarbeit kann nicht vollständig sein ohne Filmtipps, und die evangelischen Kinoexpertinnen geben sie gerne. Julia Helmke von Interfilm:

„Zwei Filme, die ich gerne empfehlen möchte: Das eine ist ‚Past Lives‘, und das andere ist ‚Perfect Days‘. (…) Also, das sind wirklich Filmmeditationen.“

Margrit Frölich vom „Film des Monats“: 

 „Ganz herausragend ‚Anatomie eines Falls‘ mit Sandra Hüller, ein französischer Film, ja, ein Gerichtsfilm, könnte man sagen, aber er ist im Grund genommen viel mehr, den würde ich empfehlen und auch unbedingt ‚Killers of the Flower Moon‘ von Martin Scorsese.“

Und Sabine Horst von epd Film:

 „Ziemlich toll fand ich auch ‚How to Have Sex‘, (…) ein ziemlich hektischer Film über das hektische Leben junger Schülerinnen, die haben gerade die Schule abgeschlossen, die nach Kreta in einen Party-Urlaub fahren und der hat einen unheimlich genauen Blick auf die Körpererfahrungen, auch die Lebenserfahrungen junger Frauen. (…) Schön fand ich auch im letzten Jahr (…) ‚Die Frau im Nebel‘ von Park Chan-wook. (…) Kommt als Thriller daher, entwickelt sich zur elegischsten, tragischsten Liebesgeschichte und streift dabei sehr viel soziale Realität.“

Epd Film, der „Film des Monats“ und Interfilm sind drei Säulen evangelischer Filmarbeit auf nationaler und internationaler Ebene. Aber sie sind bei weitem nicht die gesamte Filmarbeit. Denn gerade weil der Film so viele Menschen interessiert, so vielfältig ist und inzwischen relativ leicht verfügbar, findet auch auf regionaler Ebene Filmarbeit statt. Besondere Beispiele sind das kirchliche Filmfestival in Recklinghausen, das erste und bisher einzige ökumenische Festival, bei dem schon Regiestars wie Volker Schlöndorff und Ken Loach mit Schüler*innen diskutiert haben.

Außerdem das Filmprojekt „Kino und Kirche“ in Niedersachsen, das Gemeinden vor Ort dabei unterstützt, besondere Filme vorzuführen. Denn es gibt in vielen Gemeinden Filmgottesdienste, mit Predigten über „Star Wars“ oder den „Herr der Ringe“ und manchmal Vorführungen von Stummfilmen wie „Nosferatu“ mit wunderbar passender Orgelbegleitung.

Es gibt den Podcast „4 Augen für ein Halleluja“, bei dem der Sprecher dieser Zeilen mitmacht. Einmal im Monat reden wir über Neuerscheinungen und theologische Themen. Und es gibt das einzigartige Beispiel von „Fisch im Fell“, bei dem ein Pfarrer zum Produzenten wird. In einem Projekt der Landeskirche Braunschweig hatte eine Jugendgruppe eine eigene kleine Soap-Serie gedreht, über Themen bei Heranwachsenden wie ungewollter Schwangerschaft oder dem Tod eines Freundes.

Diese Soap-Serie hat viele erreicht. Darum beschloss der Landesjugendpfarrer Martin Widiger, es mit einem Spielfilm zu versuchen. Und dann folgte ein kleines Märchen oder, wir sind ja im kirchlichen Bereich, ein kleines Wunder. Ein Freund schrieb das Drehbuch, ein anderer Freund übernahm das Regie, ein Mini-Budget kam zustande, und schließlich spielten die beiden Stars Frederick Lau und Dieter Hallervorden zwei Pfarrer in einem Film, der 2023 ins Kino kam, als Projekt der Landeskirche Braunschweig. Nach diesem Erfolg plant die Kirche weitere Vorhaben. Es ist fast so, als würde die kirchliche Filmarbeit damit zu ihren Anfängen zurückkehren, als sie 1923, genau 100 Jahre früher, einen Film über Martin Luther finanzierte. Es ist aber auch ein Schritt in die Zukunft, mit dem sich die evangelische Filmarbeit immer weiter entwickelt, so wie der Film nicht stehen bleibt, sondern läuft.

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

 

  1. Also sprach Zarathustra, Richard Strauss
  2. Melodie aus Charlie Chaplins „Modern Times“
  3. Singin‘ in the Rain, Gene Kelly
  4. Raiders of the Lost Ark, John Williams
  5. I‘m Just Ken, Ryan Gosling
  6. The Man With the Harmonica

 

 

 

 

28.12.2023
Pfarrer Christian Engels