Herzensbildung

Gedanken zur Woche
Herzensbildung
04.11.2016 - 06:35
03.11.2016
Pfarrerin Silke Niemeyer

Da liegt einer halbtot, direkt vor ihren Füßen, aber die Leute gehen achtlos vorbei und lassen ihn krepieren. Sie gehen weiter, gehen ihren Geschäften nach. Man fasst es nicht. Das geschieht am helllichten Tag. Wo? Auf der Straße zwischen Jericho und Jerusalem: Ein Tempeldiener kommt des Wegs und geht vorbei, ebenso ein Priester. Erst der dritte, ein Mann aus Samaria, lässt sich aufhalten. Als er den Hilflosen sieht, jammert es ihn; und er geht zu ihm, verbindet seine Wunden und bringt ihn in eine Herberge und pflegt ihn. Geh, und mach es genauso, hat Jesus seine Geschichte beendet.

 

In Essen jüngst, in dem Vorraum einer Bank, da waren es nicht zwei, sondern vier, die achtlos an dem sterbenden Mann vorbeigingen oder über ihn hinwegstiegen und ihre Geldgeschäfte erledigten. Erst der fünfte, der des Wegs kam, wurde zum Samariter. Da war es aber zu spät. Der Mann starb.

 

Nun kam die Meldung: Die Essener Polizei hat die vier Bankkunden ermittelt, die dem Mann die Hilfe verweigerten. Das erfüllt mich mit Genugtuung. Wie gut, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Wie kann man nur seelenruhig vorbeigehen, wenn man einen Mitmenschen hilf- und reglos daliegen sieht? Haben sie denn nicht ein bisschen christliche Erziehung oder einfach nur menschliche Barmherzigkeit im Leib?

 

So frage ich mich und bin im nächsten Moment beschämt. Ich erinnere mich ungern. Mein Weg zwischen Jericho und Jerusalem war letztes Jahr die Schellingstraße in München. Da lag mitten im belebten Münchner Univiertel ein Bündel Mensch auf dem schmalen Bürgersteig. Reglos, das Gesicht von einer Kapuze verhüllt. Wie können die alle vorbeigehen? Betrunken wahrscheinlich. Soll er doch seinen Rausch ausschlafen. Aber wenn der da gerade stirbt? Ach wo, hier doch nicht! Das kann doch gar nicht ernst sein, es gehen doch alle vorbei. Ich auch. Nein doch nicht, ich gehe zurück. Bleibe stehen, schaue. Gehe wieder. Komme wieder zurück. Schaue länger hin. Ich mag nicht hingehen. Aber was, wenn der auf dem Boden gerade stirbt? Ich gehe hin, knie mich neben ihn und fasse ihn bei der Schulter. Das Bündel Mensch hat ein junges Frauengesicht. Es schaut mich an. Brauchen Sie Hilfe? Nein, es geht.

 

Auch mit der besten christlichen Erziehung ist man nicht darüber erhaben einfach vorbei zu gehen. Ich war es jedenfalls nicht. Ich hatte Angst, Ekel, Unwillen. Ich musste mich überwinden. Der Samariter hat mir etwas voraus. Ihn jammert, was er sieht. Es zerreißt ihm die Eingeweide, müsste man hier genauer übersetzen. Er hat etwas, dem er in diesem Moment nicht widerstehen kann. Er hat tiefes Mitgefühl. Ich aber hatte seichte Begründungen: Selbst schuld. Keine Zeit. Die anderen sind jetzt mal dran. Und ich hatte eine unergründliche Furcht diesen fremden Menschen anzufassen. Weil ich kein Herz habe?

 

Doch, ich habe ein Herz, wie wahrscheinlich auch die vier, die sich jetzt verantworten müssen. Und ich bin überzeugt, dass Menschen eigentlich lieber beherzt als herzlos handeln.

 

Aber was geschieht in unseren Herzen durch die regelmäßig wiederkehrenden Beschimpfungen der Elenden und Armen? Sie seien selbst schuld an ihrem Geschick. Sie seien Leistungsbetrüger, Faulpelze, es liege am Alkohol.

 

Was soll das Herz lernen aus der Betonung, der Mann in Essen sei gepflegt gekleidet gewesen? Verdienen Ungepflegte weniger Pflege? Muss man sich Hilfe irgendwie verdienen?

 

Der Sonntagabendkrimi zeigt, wie ein Alltagssamariter erstochen wird von dem, dem er am Wegesrand helfen will. Welche Angst wird dem Millionenpublikum ins Herz gepflanzt?

 

All dies lagert sich ab und schafft gefährliche Gefäßverengungen im Herzen unserer Gesellschaft.

 

Wie retten wir die Herzensbildung? Wie retten wir das Mitgefühl? Sie können mich bis acht Uhr anrufen unter der Telefonnummer 030 325 321 344. Ich wiederhole: 030 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter „deutschlandradio.evangelisch“.

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03.11.2016
Pfarrerin Silke Niemeyer