Book from the Ground

Wort zum Tage
Book from the Ground
16.08.2017 - 06:20
15.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen

Ob man hier wohl gut arbeiten kann? – Die drei Schreibtische in der engen Gefängniszelle im ehemaligen Frauengefängnis in Wittenberg sind über und über mit Arbeitsutensilien übersät: Scheren, Tacker, Klebestifte, Spitzer, Ordner, Bücher, Computer, Diskettenboxen... – An den Wänden hängen Fotografien und Kopien aller möglicher Bildsymbole und Signalschilder – etwa so wie in Grundschulklassenzimmern, die das Lesenlernen noch vor sich haben, die Buchstabentafeln. – Das ganze Zimmer wirkt wie eine überdimensionale Bildcollage in 3D. Wer könnte hier gearbeitet haben?

 

Die Zelle ist das inszenierte Arbeitszimmer des chinesischen Künstlers Xu Bing, das er für die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ eingerichtet hat. Xu Bing ist Übersetzer: Über Jahre hat er in seinem Heimatland eine eigene Sprache mit über 4000 eigenen Schriftzeichen entwickelt und in seinem „Book from the Sky“, dem „Buch, das vom Himmel kam“, gedruckt. – In Wittenberg arbeitet Xu Bing nun an seinem „Book from the Ground“, dem „Buch, das von der Erde kam“, für das er eine eigene Bildersprache aus Bildzeichen entwickelt. Sein Ziel ist es, die gesamte Bibel in eine allgemeinverständliche Bildersprache zu übersetzen. Ort und Zeit sind dafür gut gewählt. Denn vor knapp 500 Jahren arbeitete Martin Luther in Wittenberg daran, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen und so für alle verständlich zu machen.

 

Heute sind Bilder zu einer universellen Sprache geworden: Über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg können wir uns mittels Bilder einfacher und schneller verständigen als mit der Sprache, die wir erst mit viel Zeitaufwand lernen müssen. – Nur: Ist dem wirklich so? – Der Münchner Filmexperte Andreas Ströhl warnt vor einem Irrtum. Denn auch wenn wir Bilder scheinbar leichter und schneller verstehen als fremde Sprachen: Auch Bilder sind hochkomplexe Zeichen, deren Bedeutung selten auf der Hand liegt und die wir ebenfalls erst lernen müssten.

 

Kein Wunder, dass die Arbeitshefte des Künstlers Xu Bing in Wittenberg dann auch eher wie Bilderrätsel wirken denn wie offene Bücher, in denen alle lesen und die alle verstehen können. Seine Bilder sind keine einfachen Comics, sondern stellen den Betrachter vor neue Rätsel und vor eine neue Bildersprache, die ebenfalls erst gelernt sein will.

15.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen