Hilfreicher und schädlicher Argwohn

Wort zum Tage
Hilfreicher und schädlicher Argwohn
27.10.2016 - 06:23
31.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann

Wie aufgescheuchte Küken unter den Fittichen ihrer Henne Zuflucht suchen, so rannten die kleinen und großen Kinder unter das weiße Zeltdach, wo die Erwachsenen sie trösteten und umarmten. Zum Sommerlager kommen die ca. 50 christlichen und muslimischen Kinder aus der Region Bethlehem zwei Wochen lang jeden Tag zusammen, um zu malen, zu basteln, zu musizieren und so ihre Talente zu entdecken, zu erproben und zu stärken. Die christliche Familie Nassar lädt sie dazu ein in ihr „Zelt der Nationen“.

Aufgescheucht wurden die palästinensischen Kinder, weil urplötzlich zahlreiche Soldaten der israelischen Armee das Gelände betraten. Nicht nur die Kinder fragten sich, was das wohl zu bedeuten hatte.

Schnell wurde klar, dass niemand etwas zu befürchten hatte. Die Soldaten hatten die beiden Autos mit israelischen Nummernschildern am Eingangstor ausgemacht. Die Autos waren israelische Leihwagen, die zu einer Gruppe von amerikanischen Besuchern des „Zeltes der Nationen“ gehörten. Die Soldaten hingegen befürchteten, es seien Siedler, die gegen die Palästinenser Böses im Schilde führten und wollten einem möglichen Konflikt zuvorkommen.

Reine Fürsorge also hat uns auf das Gelände gebracht, konnten die Soldaten sagen – und sie hätten diese biblische Regel hinzufügen können: Denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!  (Sacharja 7,10)

Aber natürlich war die Angst der Kinder nicht grundlos. Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht mit israelischem Militär. Wenn sie nachts aus dem Schlaf gerissen mit ansehen müssen, wie die bewaffneten Uniformierten ihren Vater und ihre Brüder schlagen  und sie verhaften, wie ihr Mobiliar zertrümmert und manchmal auch das ganze Haus vor ihren Augen eingerissen wird…

Denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen! Das möchte ich dann auch diesen Soldaten zurufen. Wir wissen, dass solche Militäraktionen oft genug nicht durch begründeten Argwohn motiviert sind, sondern nur das eine Ziel haben, Palästinenser einzuschüchtern, sie klein zu machen und klein zu halten.

Freilich auch die Soldaten könnten wiederum sagen, dass sie Gründe haben, dieser biblischen Regel nicht zu folgen, dass Misstrauen und Argwohn manchmal Leben schützen kann. Sprengstoffanschläge und Messerattacken sind  eine schlimme Realität im Lande.

Ja, die biblische Regel ist kein Patentrezept. Aber gerade in Situationen, die durch Argwohn und Misstrauen vergiftet sind, hilft nur die entschlossene Haltung, die das Leben der Familie Nassar im „Zelt der Nationen“ bestimmt: Wir weigern uns Feinde zu sein. So können Feinde als Bruder und Schwester entdeckt werden und Misstrauen und Argwohn schwinden.

31.10.2016
Pfarrer Rainer Stuhlmann