Wir sind von hier - 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen

Im März wurde das Forscher-Ehepaar Oezlem Tuereci (li.) und Ugur Sahin (re.) für die Entwicklung eines der ersten Corona-Impfstoffe mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet

epd-bild/dpa-Pool/Bernd von Jutrczenka

Wir sind von hier - 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
Gedanken zur Woche mit Heidrun Dörken
01.10.2021 - 06:35
29.09.2021
Heidrun Dörken
Über die Sendung

Vor 60 Jahren warb die Bundesrepublik Deutschland um Arbeitskräfte aus der Türkei. Das Ehepaar Şahin-Türeci, die den Corona-Impfstoff entwickelten, sind Nachkommen türkischer Einwanderer. Aber ist das heute überhaupt noch eine Nachricht wert?

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Canan Bayram und Cem Özdemir haben ihre Wahlkreise direkt gewonnen. Nezerat Baradari und Serap Güler ziehen über die Landeslisten ihrer Parteien in den Deutschen Bundestag ein. Das sind nur vier von rund achtzig am Sonntag gewählten Abgeordneten mit einem Migrationshintergrund. Bei ihnen waren ihre Familien oder sie selbst aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Hier ist ihr Zuhause. Viele sagen: ihre Heimat. Ein schönes großes Wort, nicht nur in der Bibel (1).

Über das sperrige Wort Migrationshintergrund kann man streiten. Hintergrund oder Vordergrund sind unvollkommene Begriffe dafür, dass Menschen zwei oder mehr Traditionen und Kulturen in sich tragen und gestalten. Und bei Migration kommt es doch drauf an, in welchen zeitlichen Dimensionen man denkt. Schaut man auf Jahrhunderte oder Jahrtausende, sind die meisten Deutschen Zugewanderte. Und noch weiter zurück, vermutlich vor 200.000 Jahren (2), kamen unsere Vorfahren, Homo sapiens, nach Europa. So kommen wir alle aus Afrika, der Wiege der Menschheit.

Um solche Urzeiten ging es diese Woche nicht. Bundespräsident Steinmeier erinnerte an ein Ereignis vor sechzig Jahren. 1961 hatte Deutschland mit der Türkei ein Anwerbe-Abkommen geschlossen, um den Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik abzumildern. Wie schon vorher mit Italien, Spanien, Griechenland und später mit weiteren Ländern.

Der Bundespräsident besuchte am Dienstag das Ruhrgebiet, weitere Veranstaltungen folgen. Er spricht mit damals Gekommenen und den Generationen nach ihnen. Er besuchte eine Eisenhütte in Mühlheim, in der viele der zu der Zeit „Gastarbeiter“ Genannten anfangen haben. Er war auch bei der Foto-Ausstellung in Essen mit dem Titel: „Wir sind von hier“ (3). Die Bilder zeigen Menschen bei der Ankunft auf dem Bahnsteig mit Koffern, am Stahlofen, auch Familienleben am gedeckten Tisch und eine Hochzeit (4). Der Bundespräsident erinnerte an einen Satz des Schriftstellers Max Frisch, den dieser 1965 sagte: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“

Inzwischen sind einige ihrer Kinder und Enkel deutsche Volksvertreterinnen und – vertreter. Andere Nachkommen türkischer Einwanderer haben die halbe Welt vor der Ansteckung mit Corona gerettet, das Mainzer Ehepaar Şahin / Türeci mit dem Impfstoff, den sie entwickelten.

Die Leistungen seit den Sechzigern hat ein Unternehmer diese Woche so zusammengefasst: Ohne sie, die damals gekommen sind, gäbe es uns nicht mehr (5).

Ich verstehe aber auch Stimmen, die es ablehnen, dass das Thema Herkunft überhaupt noch eine Rolle spielt, wenn von Erfolg oder Misserfolg die Rede ist bei Politikern, Managern oder Forscherinnen. Sie argumentieren so: Dass uns zwei Gastarbeiterkinder vor der Pandemie retten, sollte keine Nachricht mehr sein. Spricht es doch von grundsätzlicher Skepsis, dass es überhaupt möglich ist. Lasst uns einfach von den Forschern aus Mainz reden (6).

Ich stimme zu: Viel wichtiger ist doch, was ein Mensch leistet, welchen Charakter er oder sie hat. Diese Zukunft hat begonnen. Zwar gibt es noch Hürden, doch sie sind kleiner geworden in sechzig Jahren. Jetzt ist dran: Nicht nur zu fragen, wo kommst du her? Sondern vor allem: Wohin machen wir uns auf?

Der christliche Glaube kann dazu einen Beitrag leisten. In urchristlichen Gemeinden kam es nicht darauf an, dass jemand aus einer besonderen Familie stammte oder aus einem bestimmten Volk. Solche Kategorien waren nicht wichtig. Eine Christin, ein Christ hat schon immer zwei Heimaten, in denen Gottes Wille geschehen soll: Wie im Himmel, so auf Erden. Auch wenn das in der Kirchengeschichte manchmal vergessen wurde: Im besten Fall leben Christen im Bewusstsein: Wir haben hier keine bleibende Stadt, wir suchen die zukünftige (7). Das schließt nicht aus, dass sich ein gläubiger Mensch an seinem Ort beheimatet, sich zugehörig fühlt und sich engagiert. Im Gegenteil: Wie im Himmel, so auf Erden. Wer die zukünftige Stadt sucht, wird in der Gegenwart der Stadt Bestes suchen (8). So drücken es biblische Worte aus. Da, wo ich bin, bin ich mit anderen für eine gute Zukunft unterwegs.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Literaturangaben

  1. https://www.ekhn.de/glaube/glaube-leben/bibel/heimat-in-der-bibel.html
  2. https://www.br.de/nachrichten/wissen/homo-sapiens-kam-viel-frueher-in-europa,RW0gKpg
  3. https://ruhrmuseum.de/ausstellungen/aktuell/wir-sind-von-hier-cagatay
  4. https://www.boell.de/de/60-jahre-anwerbeabkommen-deutschland-tuerkei-eine-familiengeschichte
  5. Geäußert im der Tagesschau: https://www.ardmediathek.de/video/schwerpunkt-60-jahre-anwerbeabkommen/tagesschau24/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3RhZ2Vzc2NoYXUyNC8zYjI4NDBkYi1lYzE5LTQ0M2UtYTA1NC01ZmVkZDkzNGRmYzkvMQ/
  6. https://www.handelsblatt.com/politik/international/kommentar-dass-uns-zwei-gastarbeiterkinder-vor-der-pandemie-retten-koennten-sollte-keine-nachricht-sein/26612466.html?ticket=ST-4199124-Ac5LGCcfs3JGEeYAKCIZ-ap1
  7. Hebräerbrief 13,14
  8. Jeremia 29, 17

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29.09.2021
Heidrun Dörken